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Buch des Monats 2016-08

Buch des Monats 2016-08

Peter Zimmerling

Evangelische Mystik.

 

Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht

Jahr: 2015

Seiten: 283

Sprache: Deutsch

ISBN: 978-3-525-57041-8

30,00€

Die Mystik hat in der evangelischen Theologie der letzten Jahre eine grundlegende Neubewertung erfahren. Galt sie in vielen älteren Strömungen protestantischen Denkens als typisch katholisch und unvereinbar mit dem evangelischen Glauben, so hat die historische Forschung die Unhaltbarkeit einer solchen Sicht erwiesen. Mit seiner Studie zur Evangelischen Mystik gibt der Leipziger Theologe Peter Zimmerling nun einen ersten Gesamtüberblick über die Bedeutung mystischer Frömmigkeit im Protestantismus.
Zuerst befreit Zimmerling das Verständnis der Mystik von einigen Engführungen. Mystik besteht nicht in erster Linie aus visionären oder ekstatischen Gipfelerfahrungen. Im Kern handelt es sich um eine Erfahrungserkenntnis Gottes, eine Intensivform christlicher Frömmigkeit mit dem Ziel der Gottesbegegnung.
In einem theologiegeschichtlichen Überblick zeigt Zimmerling, welche Rolle mystische Traditionen für zentrale Vertreter des evangelischen Christentums spielte. Im Blick auf Luther fasst Zimmerling zentrale Einsichten der neueren Forschung zusammen. Wesentliche Anstöße durch Johannes Tauler und andere mystische Autoren leisteten einen erheblichen Beitrag zur Entwicklung der reformatorischen Theologie. Auch in der reifen Gestalt von Luthers Denken sind Impulse etwa der Brautmystik nicht verloren. Luthers Impulse zu einer erneuerten Frömmigkeit lassen sich als Demokratisierung der klassisch-monastischen Mystik verstehen.
Bei den Dichtern Philipp Nicolai und Paul Gerhardt und dem Komponisten Johann Sebastian Bach weist Zimmerling nach, wie die bis heute wirkmächtigsten Impulsgeber evangelischer Musik-Frömmigkeit ohne die mystische Dimension ihres Glaubens unverständlich bleiben. Gerhard Tersteegen und Ludwig Zinzendorf stehen für die besondere Bedeutung der Mystik im Raum des Pietismus. Gerade der Pietismus griff gegenüber der rationalen lutherischen Orthodoxie in besonderer Weise auf das mystische Erbe des Christentums zurück.

Schließlich zeigt Zimmerling, dass sich auch im modernen Protestantismus vielfältige Spuren dieser Frömmigkeit finden lassen: So unterschiedliche Christen wie der UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld, und die Theologen Dietrich Bonhoeffer und Dorothee Sölle haben sich mit mystischen Themen und Texten intensiv auseinandergesetzt und in einer Zeit der Säkularisierung das mystische Erbe mit eigenen Akzentsetzungen verbunden. Alle drei eint das Bemühen, Mystik noch deutlicher als in früheren Zeiten mit dem Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit zu verknüpfen.
Nach diesen exemplarischen Erörterungen geschichtlicher Stationen der evangelischen Mystik wird Zimmerling noch einmal grundsätzlich. Lässt sich die faktisch große Bedeutung mystischer Spiritualität für den Protestantismus auch theologisch rechtfertigen? Zimmerling zeigt, dass es vor allem die biblischen Texte selbst sind, die mit ihrer Betonung der grundsätzlichen Andersartigkeit Gottes oder ihren andeutenden Beschreibungen von Gottesbegegnungen und -erlebnissen immer wieder Anregungen zu persönlicher Gottesfreundschaft im mystischen Sinne gegeben haben. 
Das Buch schließt mit einer kleinen Horizontabschreitung verschiedener Dimensionen mystischer Frömmigkeit. Mystik kann da eine Bereicherung des evangelischen Christentums sein, wo sie nicht einseitigen Sonderwegen verfällt, sondern den gleichen Kriterien wie evangelische Frömmigkeit insgesamt genügt: sich den biblischen Texten verpflichtet weiß, auf Christus bezogen ist und den Vorrang der Gnade Gottes zur Geltung bringt. So orientiert, verbindet mystische Frömmigkeit die Erfahrungsbezogenheit lebendigen Glaubens mit dem Wissen um die Unverfügbarkeit Gottes.

Peter Zimmerlings Buch ist ein vorzügliches Zwischenfazit, das den grundlegenden Umschwung der theologischen Forschung bezüglich der Mystik im größeren Zusammenhang nachzeichnet. Es vollendet damit eine gewisse Heimholung der mystischen Frömmigkeit als eines selbstverständlichen Bestandteils evangelischen Christentums und bietet sich zugleich als Ausgangspunkt weiterer Spurensuche und Entfaltung an.

 

Prof. Dr. Thorsten Dietz

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