Die Entstehung der Marburger Mission
Durch die China-Inland-Mission (CIM) Hudson Taylors (1832-1905) war seit Mitte des 19. Jahrhunderts die geistliche Situation der Massenbevölkerung Chinas tief in das Bewusstsein der erweckten Kreise Europas und Amerikas eingebrannt worden.[1] 1889 begann die in Barmen gegründete Deutsche China-Allianz-Mission als erste deutschsprachige Mission im Rahmen der CIM zu arbeiten. 1895 folgte die Pilgermission St. Chrischona und 1899 die Liebenzeller Mission. Diese waren beide von der Heiligungsbewegung geprägt und sollten für die Vandsburger die entscheidenden Verbindungen nach China knüpfen.
Der Startpunkt für das Missions-Engagement des Vandsburger Werks selbst war der Aufenthalt des Chrischona-Bruders Friedrich Traub in Vandsburg.[2] Traub sollte mit der China-Inland-Mission ausreisen, kam aber vorher noch im April 1899 auf Anfrage Krawielitzkis für vier Monate nach Vandsburg um dort neben vertiefenden Sprachstudien zu predigen und Beziehungen zu knüpfen. Die gemeinsame Prägung durch Stockmayer führte schnell zu herzlichen Verbindungen, so dass die Vandsburger Gemeinde Friedrich Traub bei seiner Verabschiedung am 27.8.1899 als ihren Missionar ansah und seine Ausreise und seine spätere Tätigkeit in China finanzierte. Durch Traub lernte Krawielitzki die Grundsätze der China-Inland-Mission kennen, die auch das Vandsburger Werk stark prägen sollten.[3]. Außerdem regte Traub immer wieder dazu an, über eine eigene Vandsburger China-Mission nachzudenken. Schon 1901 schrieb er an Krawielitzki:
„Wenn der Herr uns doch auch ein eigenes Gebiet geben würde, wie es die China-Allianz-Mission in Barmen hat oder wie auch der norddeutsche Zweig der China-Inland-Mission [die spätere Liebenzeller Mission, F.L.] es bekommen wird! Vielleicht entsteht auch noch ein Vandsburger Zweig der China-Inland-Mission. Bei dem Herrn sind alle Dinge möglich.“[4]
1903 erwog man in Vandsburg zum ersten Mal, eigene Brüder und Schwestern nach China zu senden und vielleicht sogar ein chinesisches Gemeinschafts-Schwestern- und Brüderhaus zu gründen.[5] Doch noch ehe die Pläne zur Ausführung reiften, erkrankte Traub an Typhus und starb am 8.2.1906. Daraufhin holte Krawielitzki noch genauere Informationen über die Anforderungen für den Dienst einer Schwester in China ein und ließ, ermutigt von Spendenzusagen, Schwester Elisabeth Gramenz vom Frühjahr 1907 an für diesen Dienst ausbilden. Im Juli 1908 ging sie nach Liebenzell und 1909 noch für einige Monate nach London, bevor sie schließlich im September 1909 über Genua nach Shanghai reiste und dort in Zusammenarbeit mit der Liebenzeller Mission (die mit der China-Inland-Mission kooperierte) als erste Vandsburger Schwester die Arbeit in China aufnahm.[6] Als 1911 Anna Müller als zweite Vandsburger Diakonisse in China ankam und der DGD darauf bestand, dass beide Schwestern gemeinsam an einem Ort eingesetzt werden sollten, wurde ihnen im Juni 1912 die Station Taohwaping in der Provinz Hunan zugeteilt, wo sie eine Elementarschule errichteten und drei Außenstationen aufbauten. Im gleichen Jahr begannen auch Berta Preisinger und Margarete Kannenberg ihre Arbeit in China, zunächst von 1912-1918 in Yüanchow, bevor sie dann auch zu den anderen Schwestern nach Taohwaping übersiedeln konnten. Neben pädagogischen Initiativen und intensiver medizinischer Arbeit unter der chinesischen Bevölkerung und unter den Liebenzeller Missionarsfamilien bildeten Evangelisation und Gemeindeaufbau das Hauptziel der Schwestern, die in den 18 Jahren Zusammenarbeit mit der Liebenzeller Mission in der Provinz Hunan etwa 300 Menschen tauften.[7] Die Station Taohwaping entwickelte sich langsam zu einer blühenden DGD-Enklave inmitten des Liebenzeller Missionsgebiets. Als man im DGD schließlich die Zeit gekommen sah, eine rechtlich selbständige China-Mission zu gründen, verweigerten die Liebenzeller die Anerkennung von Taohwaping als DGD-Gebiet. Stattdessen musste die Station ganz in Liebenzeller Hände übergeben werden, und der DGD bekam 1928 mit der Provinz Yünnan ein eigenes Arbeitsgebiet als Vandsburger Mission im Verband der China-Inland-Mission (Yünnan-Mission).[8] Die DGD-Diakonissen siedelten im Dezember 1928 mit der ersten chinesischen Schwester Hanna Liu dorthin über.[9] In Marburg hatte man unterdessen im September 1927 eine eigene Missions-Hauptstelle unter der Leitung von Schwester Gertrud Mehl gegründet. Da man als selbständige Missionsgesellschaft nun auch für die Ausbildung selbst verantwortlich war, wurde schon bald für die sich zur Ausreise nach China vorbereitenden Schwestern ein eigenes Missions-Seminar installiert. Schnell aber wurde deutlich, dass nun auch eigene männliche Mitarbeiter unbedingt nötig waren, so dass man sich im Frühjahr 1928 entschloss, die beiden Taborbrüder Eugen Wilhauck und Johannes Dietrich für eine Ausreise nach China vorzubereiten. Nach einem Vierteljahr im Marburger Missions-Seminar und einer Zeit der Sprachausbildung in England wurden Wilhauck und Dietrich am 15.9.1929 in TABOR für ihren Dienst in China ausgesandt. Im Frühjahr 1930 wurde daraufhin die Bezeichnung TABORs in Seminar für Innere und Äußere Mission verändert.[10] Die Yünnan-Mission expandierte auch in den folgenden Jahren rasant, so dass im Jahr 1939 bereits 26 Diakonissen und 10 Taborbrüder mit ihren Ehefrauen im Missionsdienst in China standen. Die kommunistische Machtübernahme führte dann aber bis zum Herbst 1951 zur Ausweisung aller Missionare und somit zu einem Ende der China-Mission des DGD.[11]
[1] Die China-Inland-Mission sandte in den ersten 50 Jahren ihres Bestehens von 1865-1915 etwa 2000 Missionare nach China aus.
[2] Friedrich Traub, geb. 19.1.1873 in Korntal. 1893-1896 Ausbildung auf St. Chrischona, 1897-1898 Prediger in Neuchatel, Oktober 1898 — April 1899 Missionsausbildung im Missionshaus der China-Inland-Mission in London.
[3] Die Grundsätze der CIM, die als die erste große Glaubensmission gilt, sind den Grundsätzen des DGD sehr ähnlich. Vgl. Berufsordnung (1929), 420-421. Insbesondere war die CIM für damalige Verhältnisse sehr offen für den geistlichen Dienst von Frauen. Die Liebenzeller Mission — als deutscher Zweig der CIM — segnete auch Frauen zum geistlichen Dienst ein und berief Frauen in das leitende Missionskommitee. Die Prägung durch die angelsächsische Heiligungsbewegung führte in diesem Aspekt zu einer rasanten Modernisierung im Vergleich zu den übrigen im 19. Jahrhundert entstandenen deutschen Missionsgesellschaften. Eine eingehende Analyse der deutschsprachigen Glaubensmissionen, die sich in China engagierten, findet sich bei Klaus Fiedler, Ganz auf Vertrauen, Gießen-Basel 1992, und Andreas Franz, Mission ohne Grenzen, Gießen 1993.
[4] Zitiert bei Mund, Krawielitzki, 88.
[5] Gottestaten 6 (Juni 1903), 1-3.
[6] Die von Pfr. Heinrich Coerper1899 als Zweig der englischen China-Inland-Mission gegründete Liebenzeller Mission (LM) hatte ihren Sitz zunächst in Hamburg, ab 1902 dann in Liebenzell im Schwarzwald. 1906 veränderte sich der Status zu einer eigenständigen, aber mit der CIM assoziierten Missionsgesellschaft. Im Jahr 1914 arbeiteten bereits 60 Missionarinnen und Missionare der LM in China, sowie 14 auf den Karolinen-Inseln. Damit war die LM die größte Missionsgesellschaft der Gemeinschaftsbewegung. Sie war bis Anfang der dreißiger Jahre stark von der angelsächsischen Heiligungsbewegung geprägt.
[7] Franz, Mission ohne Grenzen, 261. Elisabeth Gramenz beendete den Missionsdienst 1920 aus gesundheitlichen Gründen (sie starb am 13.2.1940 in Marburg). Zu den übrigen drei Schwestern kam 1925 Schwester Margarete Hager, die allerdings schon nach 11 Monaten in China starb.
[8] Die China-Inland-Mission war für den DGD ein idealer Partner, da ihr Begründer Hudson Taylor schon von Anfang an zur Überzeugung gekommen war, dass unverheiratete Frauen in China problemlos und sicher unter Chinesen arbeiten können. „So sind fast die Hälfte aller Ausgesandten unverheiratete Frauen gewesen, die in chinesischer Tracht und Lebensweise dieses Heidenland durchreist haben.“ Berufsordnung (1929), 418. Die DGD-Schwestern verweigerten sich übrigens der Anweisung der CIM eine einheimische Tracht zu tragen und behielten ihre deutsche DGD-Tracht.
[9] Hanna Liu, geboren am 18.11.1905, wurde 1913 von den Schwestern in Taohwaping aufgenommen. Am 26.11.1928 wurde sie in Shanghai als Diakonisse des Mutterhauses Elbingerode eingekleidet und den deutschen Schwestern gleichgestellt. Sie starb am 15.6.1998 in Oshan.
[10] Ein Indiz für die werkinterne Geschlechterkonzeption war dabei die Anweisung Krawielitzkis, dass die Kassen auf dem chinesischen Missionsfeld nie einem Bruder übergeben werden durften, sondern immer in der Hand der Schwestern bleiben mussten.
[11] Vgl. auch Franz, Mission ohne Grenzen, 258-266. Für eine ausführliche Darstellung und Analyse der DGD-Mission in China vgl. Immanuel Scharrer: Die Yünnan-Mission in China (Marburg 2007).