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Die Evangelisationsbewegung

Nachdem in den 1870er Jahren die geistliche Erneuerung in Deutschland sich hauptsächlich auf das Thema Heiligung konzentriert hatte, kam ab 1880 das Thema Evangelisation als zweiter Schwerpunkt hinzu, so dass die Gemeinschaftsbewegung schon bald auch als regelrechte Evangelisationsbewegung wahrgenommen wurde. Auch dafür kamen die entscheidenden Impulse wieder aus den USA, wo schon Charles Finney als Heiligungstheologe und Berufsevangelist beides integriert hatte.

Die wichtigste Persönlichkeit der Evangelisationsbewegung war Dwight L. Moody (1837-1899). Er hatte in Chicago eine große CVJM-Arbeit begonnen, die er ab 1860 vollzeitlich ausübte. Seinen eigentlichen Durchbruch erlebte er jedoch in Großbritannien, wo er in den Jahren 1873-75 groß angelegte mehrwöchige Massenevangelisationen durchführte. Dabei wurde er von dem Sänger Ira Sankey begleitet, der die Botschaft musikalisch unterstützte. In den folgenden Jahren startete Moody auch in Irland und in den USA riesige Kampagnen, die in vielen Großstädten oft monatelang dauerten, und wahrscheinlich zu Millionen von Bekehrungen führten.
Ab 1880 betonte Moody dann auch das Thema Heiligung noch stärker. Er lud seine Bekehrten zu speziellen Heiligungskonferenzen ein und organisierte ab 1886 Studentenkonferenzen in Mt. Hermon, bei denen zur totalen Hingabe für die Weltmission aufgerufen wurde.
In Deutschland gab es vor 1875 zwar in vielen Kreisen der Inneren Mission ein evangelistisches Bewusstsein, welches sich aber nur in der Form äußerte, dass man durch ein vielfältiges Mühen versuchte, Einzelne wieder in das kirchliche Leben zu integrieren. Die großen Evangelisationserfolge Moodys in England ließen bei vielen nun die Sehnsucht wach werden, auch in Deutschland ähnliche Massenaufbrüche zu erleben. Nachdem Robert Pearsall Smith bei seiner Vortragsreise durch Deutschland im Frühjahr 1875 vor großen Versammlungen nicht nur zur Heiligung, sondern auch zur völligen Hingabe im Sinne einer ersten Bekehrung aufgerufen hatte, wuchs hier die Sehnsucht nach organisierter evangelistischer Arbeit in Deutschland.
Der Bonner Theologieprofessor Theodor Christlieb (1833-1889) war der erste, der die konkreten Planungen vorantrieb. Er war davon überzeugt, dass die Evangelische Kirche vor allem auch deshalb freikirchlich-amerikanische Methoden integrieren muss, um der Abwanderung von Kirchenmitgliedern zu den Methodisten entgegen zu wirken. Deshalb holte er 1882 den deutschstämmigen amerikanischen Evangelisten Friedrich von Schlümbach (1842-1901) um in Berlin fünf Monate lang systematisch zu evangelisieren. Dadurch ermutigt wurde 1884 der Schwabe Elias Schrenk (1831-1913) als erster Berufsevangelist Deutschlands fest angestellt. Schrenk war Missionar in Afrika gewesen, musste diesen Dienst aber aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. 1874/75 lebte er in England, wo er in der Begegnung mit Moody und Sankey endgültig zur Gewissheit kam, sich künftig der Evangelisation in Deutschland zu widmen. Er nahm auch an der Heiligungskonferenz in Brighton 1875 teil und hatte dort ein entscheidendes Heiligungserlebnis. Von 1884-1913 führte Schrenk in Deutschland nach Moodys Vorbild ca. 400 systematisch geplante Evangelisationen in meist säkularen Räumen durch, für die schon im Vorfeld intensiv durch Anzeigen, Plakate und Handzettel geworben wurde (was bis dahin in Deutschland unüblich war). Meistens dauerten die Evangelisationen 14 Tage, es gab ein „Rahmenprogramm, eine einstündige evangelistische Ansprache, und „Nachversammlungen“.
Zur Koordination der evangelistischen Bemühungen in Deutschland wurde 1886 auf Anregung von Theodor Christlieb der Deutsche Evangelisationsverein gegründet, der noch im gleichen Jahr eine eigene Ausbildungsstätte für Berufsevangelisten (die keine Pfarrer waren!) initiierte, die Evangelistenschule Johanneum (erst Bonn, dann Wuppertal).
Neben Schrenk traten bald andere deutschen Evangelisten, in erster Linie Samuel Keller, der eine immense literarische und evangelistische Tätigkeit entfaltete. Ferner ist der Chrischona-Absolvent und Begründer der Deutschen Zeltmission Jakob Vetter zu nennen, der 1902 mit groß angelegten Zelteinsätzen begann. Der bekannteste deutsche Evangelist in der Generation nach Schrenk wurde Ernst Modersohn (1870-1948). Die Erfolge der Evangelisationen führten zu vielen Versammlungen von Bekehrten, die zum größten Teil als Landeskirchliche Gemeinschaften organisiert wurden. Ähnliche Parallelentwicklungen gab es aber auch im freikirchlichen Bereich.
Neben den Großevangelisationen entwickelten sich vielfältige Formen von evangelistischer Zielgruppenarbeit. Im Bereich der Jugendarbeit kam es 1883 in Berlin zur Gründung des ersten deutschen CVJM und 1894 zum ersten deutschen EC-Jugendbund in Bad Salzuflen. Insbesondere diese Bewegung des Jugendbunds für Entschiedenes Christentum (EC) prägte viele tausend Jugendliche mit der Theologie der Heiligungsbewegung. 1883 kam es auch zur Gründung des ersten Schülerbibelkreises und 1890 wurde die Deutsche Christliche Studentenvereinigung (DCSV) gegründet, was später in die Arbeit der heutigen SMD mündete. Daneben entstanden für vielerlei Berufsgruppen spezielle evangelistische Vereine (Postbeamte, Bäcker, Soldaten, Seemänner usw.).
Alle Evangelisten der Gemeinschaftsbewegung waren dabei überzeugte Anhänger der Heiligungsbewegung. Für sie waren „Seelenrettung“ (Evangelisation) und „Seelenpflege“ (Heiligung) eine untrennbare Einheit. Es galt der Grundsatz, dass jeder in der Heiligung lebende Christ sich automatisch auch als Evangelist versteht. Gelebte Heiligung sollte sich geradezu darin erweisen, dass man von Gott im evangelistischen Dienst gebraucht wurde. Nur aufgrund dieser evangelistischen Leidenschaft vieler Gemeinschaftsleute konnten die Massenevangelisationen überhaupt funktionieren, da so genügend Mitarbeiter für die Vorbereitung, Durchführung und Nacharbeit bereitstanden.

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