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Die Heiligungsbewegung

Angloamerikanische Wurzeln

Die Wurzeln der späteren Heiligungsbewegung liegen in der Theologie des Begründers des Methodismus John Wesley (1703-1791). Dieser hatte gelehrt, dass der Christ nach der Rechtfertigungserfahrung durch einen längeren Prozess im Glauben weiter fortschreiten könne bis zur Stufe der „Christlichen Vollkommenheit“, d.h. dem Unterlassen jeder bewussten willentlichen Sünde.In den 1830er Jahren wurde diese wesleyanische Heiligungslehre in den USA immer populärer, wobei sehr unterschiedliche Ansichten darüber vertreten wurden, wie man die Stufe der vollkommenen Heiligung erreichen kann, ob allein durch Gottes Gnade oder durch bewusste Willensanstrengung, ob in einem langsamen Prozess oder durch ein plötzliches Erlebnis, der „Geistestaufe“.Als prägende Persönlichkeit wirkte Charles Finney (1792-1875). Er war ursprünglich Rechtsanwalt und erlebte beim Bibelstudium 1821 eine Bekehrung, die stark von einem eigenen Willensentschluss geprägt war. Dies führte bei ihm zu der Überzeugung, dass der Mensch mit absolut freiem Willen selbst über Heil und Unheil seines Lebens entscheiden kann. Nun erwarb er sich theologische Erkenntnisse im Selbststudium begann 1824 mit evangelistischen Freiversammlungen, die für großes Aufsehen sorgten. Finney ging (im Gegensatz zu dem in den USA dominierenden Calvinismus!) davon aus, dass jeder Mensch eine willentliche Entscheidung für Jesus fällen kann, auf die Gott zwingend mit der Wiedergeburt antworten wird. Er hielt erfolgreiche Massenevangelisationen, in denen er zur Bekehrungen aufrief, die durch Handheben oder Nachvornekommen dokumentiert wurden. Finney fasste seine Einsichten in seinen Vorlesungen über Erweckung zusammen, die bis heute klassischen Rang haben. Starke Betonung legte er darin auf die einer Erweckung vorangehende Buße unter Christen, die sich in einem vertieften Gebetsleben niederschlägt. Dabei betonte Finney die Vorstellung, dass Erweckung jederzeit machbar sei, wenn bestimmte Vorbedingungen erfüllt würden. Statt der göttlichen Souveränität sah er also immer die menschliche Entscheidung als maßgeblichen Faktor an. Ab 1835 wirkte Finney als Theologieprofessor in Oberlin/Ohio. Mit Asa Mahan (1800-1889) zusammen begründete er die Oberlin-Theologie, welche die Heiligung als zweite Stufe nach der Rechtfertigung beschrieb (ähnlich wie Wesley). Damit wurde er wesentlicher Impulsgeber der amerikanischen Heiligungsbewegung. Systematisch wurde diese Linie weitergeführt von William Boardman (1810-1886), der in seinem weit verbreiteten Buch The Higher Christian Life (1858) die Ansicht vertrat, dass es bei der Heiligung nicht um eine völlige Ausrottung von inneren sündigen Neigungen geht, sondern allein um das ständige Bleiben in Jesus. Boardman wurde der Förderer des Ehepaars Robert Pearsall Smith (1827-1898) und Hannah Whitall Smith (1832-1911), die sich der Heiligungsbewegung angeschlossen hatten und mit ihm zusammen für die Heiligungslehren warben. In den USA kam es nach dem Bürgerkrieg 1865 zu den ersten großen konfessionsübergreifenden Heiligungsversammlungen. Diese Heiligungsbewegung organisierte sich 1867 in der „National Camp Meeting Association for the Promotion of Holiness“, sie führte zur Erneuerung vieler bestehender Denominationen und schließlich auch zu neuen Kirchengründungen (Gemeinde Gottes, Kirche des Nazareners, Heilsarmee, usw.)

Die Heiligungsbewegung kommt über England nach Deutschland

Robert Pearsall Smith schrieb 1870 das einflussreiche Buch „Holiness through Faith“ und reiste 1873 zu einem Kuraufenthalt nach Europa. Als sich seine Gesundheit festigte, begann er in England, Irland und Frankreich 3-4-tägige Meetings abzuhalten. Auf Wunsch einiger Studenten in Cambridge fand im Juli 1874 ein Heiligungstreffen mit ungefähr 150 Personen auf dem Privatgelände Broadlands Park unter der geistlichen Leitung der Ehepaare Boardman und Smith statt, bei dem man beschloss, die dortigen geistlichen Erfahrungen einem größeren Personenkreis nahe zu bringen. Deshalb veranstaltete man vom 29.8.-7.9.1874 in Oxford das Oxford Union Meeting for the Promotion of Scriptural Holiness, eine Heiligungskonferenz mit 1500 Teilnehmern, an der auch ca. 20 deutsche und schweizer Theologen teilnahmen (darunter Rappard, Stockmayer und Jellinghaus). Carl Heinrich Rappard (1837-1909), der Leiter der Pilgermission St. Chrischona, der an den „Segenstagen von Oxford“ die Erfahrung der Heiligung durch den Glauben gemacht hatte, trug die Anliegen der Bewegung in die Schweiz und nach Süddeutschland, indem er Versammlungen im Stil der Oxford-Konferenz abhielt, Schriften von Smith in deutscher Sprache publizierte und die Heiligungszeitschrift „Des Christen Glaubensweg“ publizierte. Damit bereitete er eine fünfwöchige Vortragsreise Smiths im April/Mai 1875 quer durch Deutschland und die Schweiz vor, die für viel Aufsehen vor allem im Landeskirchlichen Bereich sorgte. Smith predigte vor Tausenden von Zuhörern in Berlin, Basel, Stuttgart, Karlsruhe, Frankfurt und im Wuppertal, wurde von Dr. Friedrich Wilhelm Baedeker übersetzt und von dem Methodisten Ernst Gebhardt musikalisch unterstützt. Vom 29.5.-7.6.1875 fand eine zweite Heiligungskonferenz in Brighton statt, an der es unter den 8000 Besuchern auch 200 deutsche Teilnehmer gab (darunter auch der später einflussreiche Evangelist Elias Schrenk und der Missiologe Gustav Warneck!). Die Kraft der Bewegung lag weniger in einer neuartigen Lehre als in dem Eindruck des praktisch gelebten Glaubens der Redner. Gerade angesichts mancher eingefahrener und traditionsbeladener Verhältnisse in der Heimat waren viele deutsche Pfarrer beeindruckt.Kurze Zeit nach der Konferenz wurde Smith allerdings mit dem Vorwurf konfrontiert, er habe in einem seelsorgerlichen Gespräch die unbiblische Geheimlehre einer spürbaren Verlobung mit Jesus vertreten und außerdem die betreffende Dame sexuell belästigt. Smith stritt Letzteres ab und sagte sich auch von seiner Sonderlehre los. Dennoch wurde er vom Leitungskomitee der Brightoner Konferenz zur Aufgabe jeder weiteren Lehrtätigkeit in England gedrängt. Smith ging daraufhin mit seiner Familie wieder in die USA und zog sich als gebrochener Mann ins Privatleben zurück. Das Ausscheiden Smiths schien zunächst die Heiligungsbewegung in Deutschland zu stoppen, mit der Zeit aber merkte man, dass bleibende Einflüsse sich Bahn machten. Bis 1875 hatte der Versuch, angelsächsische Frömmigkeit nach Deutschland zu übertragen, nur zur Bildung von Freikirchen (Baptisten und Methodisten) geführt, die man aber selbst in erweckten Kreisen als Sekten scharf ausgrenzte. Erst die von Pearsall-Smith angestoßene Oxford- oder Keswick-Bewegung bewirkte, dass zum ersten mal angelsächsische Einflüsse in breitem Maße im landeskirchlichen Raum aufgenommen wurden. Sie wurde zum Orientierungspunkt für viele, die sich nach einer innerkirchlichen Erneuerung sehnten, und das Anliegen einer tieferen persönlichen Heiligung führte zur Bildung von Landeskirchlichen Gemeinschaften.Neben Rappard wurde vor allem Otto Stockmayer (1838-1917) der wohl einflussreichste Prediger und Seelsorger der deutschen Heiligungs- und damit auch der Gemeinschaftsbewegung. Tief überzeugt von der Macht der Sünde kam er zu der Überzeugung, dass nicht mehr nur eine einfache Lebensübergabe der Weg zur Freiheit von der Sündenmacht sei, sondern ein Lebensweg, der durch immer tiefere Reinigungen und Gerichte führt. Dabei betonte er, dass es nicht um Gefühle, sondern immer nur um geistliche Realitäten geht. Jesus soll unser Leben in die Hand bekommen, was nur durch die „Zerbrechung des Eigenlebens“ geschehen kann. Beeinflusst durch die dispensationalistischen Anschauungen John Nelson Darbys (Brüdergemeinden) entwickelte Stockmayer auch die Sonderlehre einer vorzeitigen Entrückung einer Auswahlgemeinde. Die Zubereitung dieser Braut des Lammes wurde fortan einer der mächtigsten Antriebe seiner Heiligungslehre. Nur Durchgeheiligte könnten zu dieser Überwinderschar gehören, ein Status, für den er bei der Mehrheit der Christen keine Hoffnung hatte. 1909 hatte Stockmayer allerdings die Größe, diese Elitenvorstellung zu widerrufen.Stockmayer besaß auch nach seinem Tod noch jahrzehntelang überragende Bedeutung für die Frömmigkeit der Gemeinschaftsbewegung. Theophil Krawielitzki hat dafür gesorgt, dass insbesondere der DGD sich in den ersten Jahrzehnten theologisch ganz auf Stockmayers Linien entwickelt hat.Im Bereich des Gnadauer Verbandes können neben dem DGD auch die Werke in St.Chrischona, Bad Liebenzell und die Deutsche Zeltmission auf dieser Linie gesehen werden.Für das theologische Fundament der deutschen Heiligungsbewegung sorgte die zweibändige Dogmatik von Theodor Jellinghaus (1841-1913) Das völlige, gegenwärtige Heil durch Christum (1880). Jellinghaus versuchte in seinem als „Heilismus“ bezeichneten System, die Oxfordlehren mit reformatorischen Einsichten zu verbinden. Allerdings löste er schon in der Rechtfertigungslehre das objektive extra nos auf zu einem realen Mit-Christus-zusammengefügt-sein. Die Zweistufen-Auffassung von Rechtfertigung und Heiligung wurde im Wesentlichen festgehalten. Nachdem Jellinghaus 1905 psychisch krank geworden war, vollzog er einen deutlichen Gesinnungswandel. Er erklärte 1911 öffentlich, die Grundgedanken seines Buches nicht mehr vertreten zu können, da er die Macht der Sünde unterschätzt habe und perfektionistischen Entwicklungen dadurch Vorschub leistete. Abschließend muss gesagt werden, dass die Heiligungsbewegung wesentlichen Einfluss auf die Gemeinschaftsbewegung ausübte, ohne den sie nicht vorstellbar gewesen wäre. Neben der Heiligungsbewegung ist aber unbedingt die Evangelisationsbewegung als zweiter starker Flügel zu sehen.

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