Neben den beiden großen Themen Heiligung und Evangelisation muss das Thema „Krankenheilung“ als dritter Schwerpunkt der geistlichen Erneuerung gegen Ende des 19.Jahrhunderts betont werden, so dass man teilweise sogar von einer gesonderten „Heilungsbewegung“ sprechen kann.
Bedeutender Vorläufer der Heilungsbewegung in Deutschland war Johann Christoph Blumhardt (1805-1880). Als Pfarrer von Möttlingen erlebte er einen Durchbruch in der Seelsorge an der okkult belasteten Gottliebin Dittus, welcher zu einer großen geistlichen Bewegung in Württemberg führte. Blumhardt hatte die Gabe der Krankenheilung und gründete 1852 in Bad Boll ein Heilungszentrum mit 150 Plätzen in dem viele gut bezeugte Heilungen körperlich kranker Menschen durch Seelsorge und Gebet geschahen. Blumhardt hatte eine durchaus nüchterne Sicht für die Realität von Glaubensheilungen, arbeitete selbstverständlich auch mit Ärzten zusammen, konnte aber nicht verhindern, dass sich zum Teil auch schwärmerische Erwartungen an sein Wirken knüpften. Er selbst betonte noch nicht so sehr die Heiligung des Menschen als Heilungsvoraussetzung, sondern er war einfach überzeugt, dass der Sieg Jesu über die gefallene Welt sich durchsetzen wird.
Die erste Krankenheilerin im Sinne der Heiligungsbewegung war Dorothea Trudel (1813-1862) aus Männedorf in der Schweiz. Sie war überzeugt davon, dass die vollkommene Heiligung auch körperliche Auswirkungen haben muss, so dass Krankheiten (die immer ein Ausdruck von Sünde sind!) verschwinden werden! Seit 1851 führte sie am Zürichsee ein geistliches Erholungsheim, in dem es durch ihr Gebetswirken zu unzähligen Glaubensheilungen kam. Im gleichen Sinn wirkte dort ihr Nachfolger Samuel Zeller (1834-1912). Viele führende Gemeinschaftsleute wie Stockmayer, Schrenk und Seitz bezeugten, hier Heilung von Krankheitsnot gefunden zu haben. Daneben entstanden eine Fülle von weiteren so genannten „Erholungsheimen“, in welchen mal radikaler, mal gemäßigter die Botschaft der Glaubensheilung durch völlige Hingabe an Gott gepredigt wurde. Dadurch verbreitete sich in Teilen der deutschen Gemeinschaftsbewegung die Überzeugung, dass man als geheiligter Christ auf ärztliche Hilfe und Medikamente völlig verzichten könne. Vor allem Otto Stockmayer setzte diese Linie dann in seinem einflussreichen Erholungsheim in Hauptwil seit 1878 fort. Später wurde vor allem Johannes Seitz (1839-1922) ein bekannter Vertreter der Glaubensheilung, der im Jahr 1900 in Teichwolframsdorf in Sachsen ein Erholungsheim mit 100 Zimmern eröffnete.
Generell wurde betont, dass Menschen nicht „gesundgebetetâ€? werden, sondern einfach seelsorgerlich ermutigt, im Glauben auch ihren Leib völlig dem Herrn anzubefehlen. Es wurde von allen Vertretern festgehalten, dass Gott frei ist, Krankheiten auch als Züchtigungen zuzulassen. Außerdem war man überzeugt, dass Heilungen in den inneren Kreis der Gemeinde Jesu gehören. Heilungserfolge wurden nicht für die evangelistische Außenwerbung genutzt.
Insgesamt ergibt sich ein gemischtes Bild der Heilungsbewegung. Auf der einen Seite muss man die Suche nach Wegen zur alternativen Krankenheilung auf dem Hintergrund der katastrophalen medizinischen Versorgung im 19.Jahrhundert würdigen als eine starke soziale Komponente der Heiligungsbewegung. Kranke wurden unbürokratisch in die Erholungsheime aufgenommen, auch wenn sie keine Christen waren und nur wenig Geld zur Verfügung hatten. Für viele ärztlich gesehen hoffnungslose Fälle war dies eine wichtige Form ganzheitlicher Betreuung.
Problematisch war aber der Gedanke, Gott allein als Arzt des Christen zu bezeichnen. Stockmayer z.B. gestand anderen die Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe zu, für sich selbst blieb er jedoch dabei, dass Gott ihn durch Krankheiten züchtigen so wie er sich durch Heilungen verherrlichen dürfe. Leider kam es aber durch solche Überzeugungen immer wieder auch zu tragischen Todesfällen. So lehnte z.B. auch der Gründer des Vandsburger Werkes, Ferdinand Blazejewski, im Mai 1900, als er schwer erkrankte, jegliche ärztliche Hilfe mit dem Hinweis „Ich hab meinen Arzt!“ ab und verstarb.
Dadurch kam es auch im Bereich der Gemeinschaftsbewegung immer wieder zu offener Kritik an überzogenen Heilungserwartungen, vor allem, wenn Menschen, die nicht geheilt wurden, implizit oder explizit deutlich gemacht wurde, dass dies nur an ihrem mangelndem Glauben liegen könne.
Dabei gab es wie in der Frage der Heiligung auch, große theologische Unterschiede in Bezug auf die Heilungserwartungen. Gruppierungen, die wie die Keswick-Bewegung eher von einem langsam wachsenden Heiligungsprozess ausgingen, erwarteten auch bei Krankheiten eher langsame Heilungsprozesse. Andere, welche eine spontane Geistestaufe lehrten, vertraten eher die Erwartung von plötzlichen Heilungen. Ein Teil der führenden Gemeinschaftsleute stand dem gesamten Thema Glaubensheilung sowieso eher distanziert gegenüber (Rappard, Pearsall Smith usw.).
Interessant ist, dass in der Frage der Glaubensheilungen die Impulse nicht aus dem angloamerikanischen Bereich kamen, sondern sich im deutschsprachigen Bereich eigenständig entwickelt haben und von hier aus in die USA und nach England exportiert wurden. 1873 reisten die Amerikaner Charles Cullis und William Boardman (der theologische Impulsgeber der Heiligungsbewegung!) nach Europa um die Heilungsbewegung kennen zu lernen. Bei Cullis führte dies zu einer intensiven Heilungsarbeit in Boston, und Boardman schrieb 1881 das Buch „The Lord that Healeth Thee“ in dem er die theologischen Grundlagen für die Glaubensheilung entwickelte. 1882 eröffnete er in London „Beth-Shan“ (Haus der Ruhe) das bekannteste Erholungsheim Englands, bei dem neben dem Gebet um Heilung allerdings auf Medikamente nicht verzichtet wurde.
Das Thema Glaubensheilung trat in der deutschen Gemeinschaftsbewegung ab 1910 dann stark in den Hintergrund. Dies lag daran, dass das Thema gemeinsam mit allen anderen körperlichen Manifestationen des Heiligen Geistes schon bald als etwas „pfingstlerisches“ betrachtet wurde, von dem man sich mehr und mehr distanzierte. Durch den Bruch zwischen Pfingstbewegung und Gemeinschaftsbewegung um 1910 sortierten sich somit auch die Befürworter und Gegner der Heilungsbewegung, so dass im weiteren Verlauf des 20.Jahrhundert das Thema Glaubensheilung nur noch als ein typisch pfingstlerisches oder charismatisches Thema betrachtet wurde.