Deutschland um 1875
In Deutschland kam in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vor allem nach den preußischen Siegen über Österreich (1866) und Frankreich (1871) und der Reichsgründung (1871) zu großem Reichtum. Diese Zeit wurde rückblickend oft als Gründerzeit bezeichnet, viele Betriebe und Industriezweige entstanden, vor allem setzte abermals eine große Bewegung der Verstädterung ein. Mit Macht holte Deutschland nun alle Rückständigkeit gegenüber dem Ausland ein. Die Folge waren viele soziale Umbrüche, vor allem in den Städten fehlte es oft an einer ausreichenden kirchlichen Versorgung. Einige Gebiete Deutschland wie Württemberg, Minden-Ravensberg, das Siegerland und Franken waren nachhaltig von der Erweckung geprägt und wiesen ein reges geistliches Leben auf. Prominente Persönlichkeiten wie der Reichskanzler Otto von Bismarck entstammten der Erweckungsbewegung, und auch das Hohenzoller Kaiserhaus stand dem konservativ-erwecklichen Pietismus nahe. Doch die dynamische Erweckungsluft der 1820er und 30er Jahre war verflogen, die pietistischen Kreise hatten hauptsächlich ein konservativ bewahrendes Gepräge.
In der Universitäts-Theologie übernahm nun ganz eindeutig die liberale Theologie die Vorherrschaft: Die Schule um Albrecht Ritschl dominierte an den deutschen Hochschulen, die radikale Bibelkritik setzte sich fast überall durch. Konservative Außenseiter wie Martin Kähler, Adolf Schlatter und die Erlanger Theologen konnten nicht verhindern, dass in Deutschland hundertfach junge Leute aus Erweckungsgebieten ins Studium zogen, um danach mit verlorenem oder gebrochenem Glauben in Pfarramt zu gehen.
Ideologisch gewannen in dieser Zeit weitgehend antireligiöse geistige Strömungen das intellektuelle Übergewicht. Die Religionskritik von Ludwig Feuerbach wurde von vielen als vernichtender Schlag gegen das Christentum empfunden. Verbreitert wurde sie noch vom Marxismus, der auf die Arbeiterschaft wie auf radikale Intellektuelle eine wachsende Faszination ausübte. Andere mehr bürgerliche Kreise fanden Trost in der skeptisch-ästhetischen Philosophie Arthur Schopenhauers oder im heroisch-amoralischen Pathos Friedrich Nietzsches. Vor allem auch der Darwinismus sorgte für ein weitere erdrutschartiges Anwachsen des Materialismus und Atheismus.
Der wirtschaftliche Aufbruch der Gründerzeit sorgte auf seine Weise für eine Abwendung von religiösen Antworten. Er brachte gleichermaßen Massenelend und ungeahnten Wohlstand. Beide konnten stärker fesseln als die Frage nach dem ewigen Heil.
All diese negativen Entwicklungen lagen vielen Pietisten schwer auf der Seele. Vielfach wurde das Bedürfnis nach neuer Erweckung empfunden. Der Impuls dazu kam aus drei verwandten Strömungen: der angloamerikanischen Heiligungsbewegung, der Evangelisationsbewegung und der Heilungsbewegung.