Orientierung

  • Neues Erforschen
  • Altes Wiederentdecken

Vorläufer des Pietismus

1. Das Zeitalter der Orthodoxie

Nach Beendigung der innerlutherischen Lehrstreitigkeiten durch die Konkordienformel 1577 konzentriert sich das Luthertum zunächst auf die genaue und ausführliche Lehrbildung. Es entstanden große Dogmatiken, die den evangelischen Glauben bis in alle Einzelheiten ausformulierten. Wichtigste Vertreter waren Johann Gerhard (1582 – 1637), Abraham Calov (1612 – 1686) und Johann Andreas Quenstedt (1617 – 1688) sowie der schließlich schon vom Pietismus beeinflusste David Hollaz (1648 – 1713). Besondere Bedeutung hatte für sie die gegenüber dem Katholizismus besonders herausgestellte Verbalinspirationslehre. In den Gottesdiensten wurde oft sehr polemisch gegen irgendwelche Irrlehren gepredigt, von denen viele Kirchgänger vorher noch nie etwas gehört hatten. Es kommt in dieser dritten und vierten Generation nach Luther vielfach dazu, dass der Glaube sich von Herz und Hand stark in den Kopf verlagert. Dennoch pflegten viele Vertreter der Orthodoxie auch eine tiefe persönliche Frömmigkeit (so z.B. der einflussreichste Theologieprofessor Johann Gerhard, der Liederdichter Paul Gerhardt oder selbst Johann Sebastian Bach)

2. Johann Arndt (1555 – 1621)

Die bedeutendste Persönlichkeit für die Frömmigkeitsentwicklung im 17. und 18.Jahrhundert in Deutschland und in gewisser Weise der Vater des Pietismusmus war Johann Arndt. Er war lutherischer Pfarrer in Quedlinburg, Braunschweig und Eisleben, bevor er 1611 nach Celle gerufen wurde und dort bis zu seinem Tod 1621 als Generalsuperintendent des Fürstentums Lüneburg wirkte. Von großem Einfluss wurden seine Vier Bücher vom wahren Christentum, die zwischen 1605 und 1610 erschienen sind. Sie erleben bis 1740 allein in Deutschland 95 Auflagen! Arndt geht es darin darum, dass die Lehre des Luthertums ins Leben verwandelt wird. Gläubige sollten zu einer tieferen Frömmigkeit und zu echter Glaubenspraxis im Alltag geführt werden. „Christus hat viele Diener, aber wenig Nachfolger“, so lautet ein bekannter Ausspruch Arndts. Äußerlich ganz in Übereinstimmung mit der lutherischen Lehre versucht Arndt in seinen Büchern die mystische Frömmigkeit des Mittelalters mit dem evangelischen Glauben zu verbinden. Dies brachte ihm den Vorwurf des Spiritualismus ein, also, dass er das äußere Wort der Bibel durch innere Offenbarungen ersetze. Doch vor allem die Unterstützung von Johann Gerhard ermöglichte ihm dennoch eine kirchliche Karriere.

3. Die Reformorthodoxie in der lutherischen Kirche

Arndt war nicht der einzige, der versuchte, die Rechtgläubigkeit des Luthertums und tiefe Frömmigkeit beieinander zu halten. In diesem breiten Strom der so genannten Reformorthodoxie gab es Theologen wie Johann Valentin Andreae (1586 – 1654), der sich um den Wiederaufbau der württembergischen Kirche nach dem 30-jährigen Krieg verdient gemacht hat, es gab einflussreiche Erbauungsschriftsteller wie Philipp Nicolai und Christian Scriver und radikale Kirchenkritiker wie Theophil Großgebauer, der in seiner Wächterstimme aus dem verwüsteten Zion (1661) die lutherische Kirche als Babel bezeichnet. Eine lange Wirkungsgeschichte entwickelten auch die theosophisch-mystischen Schriften von Jacob Böhme (1575 – 1624), einem Schuhmacher aus Görlitz. Er betonte die innere Wiedergeburt des Menschen und gab dem späteren schwärmerischen Pietismus wichtige Impulse. In seinen Visionen wird offensichtlich, wie der damalige Mensch sich über die theologischen Formeln hinaus nach unmittelbarer Gotteserfahrung sehnte.

4. Die Erneuerungsbewegung in der reformierten Kirche

Schon Calvin hatte eine stärkere Betonung auf den geheiligten Lebenswandel der Christen gelegt als das Luthertum. Dennoch erlebt auch die reformierte Niederlande zu Beginn des 17.Jh. zunächst eine Zeit der orthodoxen Lehrstreitigkeiten. Eine Gegenbewegung entsteht durch den Theologieprofessor Gisbert Voetius (1588 – 1676) in Utrecht, der massiv auf die Beachtung eines geheiligten Lebenswandels drängt und dabei dazu ganz genaue Verbotskataloge veröffentlicht. Dieser so genannte Präzisismus sollte den Pietismus in der Folgezeit immer wieder prägen. Voetius beginnt als einer der ersten die ernsthaften Christen zu separaten Versammlungen einzuladen, ohne die Volkskirche preiszugeben.

Der französische Jesuit Jean de Labadie (1610 – 1674) tritt zum reformierten Glauben über und wirkt als beeindruckender Bußprediger. 1666 wird er Pastor einer Gemeinde im friesischen Middelburg. Dort kommt es zu einer großen Erweckung und schließlich zur Gründung einer separatistischen Gemeinschaft, die in der Folgezeit ins Schwärmerische abgleitet und an verschiedene Orte flüchten muss. Im nordwestlichen Deutschland kommt es in der Gemeinde des reformierten Pfarrers Theodor Undereyck (1635 – 1693) in Mülheim/Ruhr als erstes zu Hausversammlungen neben dem Gottesdienst. Als Undereyck nach Bremen wechselt führt er dies auch dort gegen starke Widerstände ein. Die Mülheimer Gemeinde vermittelt später auch Gerhard Tersteegen (1697 – 1769) wichtige Impulse. Er wird der Hauptvertreter eines mystisch geprägten reformierten Pietismus mit teilweise starken separatistischen Tendenzen.

Top