1. Die Heiligungsbewegung als Wurzel der Glaubensmissionen
Die Erweckungsbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts brachte die klassischen Missionsgesellschaften hervor. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam es dann aber zu Neugründungen von ganz andersartigen Missionsgesellschaften, die man als „Glaubensmissionen“ bezeichnet. Sie waren geprägt von Frömmigkeit und Theologie der so genannten Heiligungsbewegung. Diese hatte ihre Wurzeln in John Wesleys Lehre, dass der Christ nach der ersten Stufe der Rechtfertigung auch noch eine zweite Stufe der Heiligung erreichen müsse, in der es kein bewusstes Sündigen mehr gebe. Der amerikanische Evangelist Charles Finney (1792-1875) führte diesen Ansatz um 1830 zur Lehre vom so genannten „Higher Christian Lifeâ€? weiter, indem er die Meinung vertrat, dass sich der Mensch mit freiem Willen nicht nur bekehren, sondern auch für ein weiteres Heiligungsleben entscheiden muss. Erst darin komme das Christsein zu seiner eigentlichen Bestimmung. Diese Lehre führte seit den 1850er Jahren in den USA zu einer konfessionsübergreifenden Erweckung, die man als die angloamerikanische Heiligungsbewegung bezeichnet. Der Eintritt in diese zweite Stufe eines geheiligten Lebens wurde dabei von vielen mit einem spontanen, manchmal ekstatischen Gefühlserlebnis verbunden („the second blessing“). Systematisch wurde diese Linie weitergeführt von William E. Boardman, in seinem weit verbreiteten Buch The Higher Christian Life (1858) und vom Ehepaar Robert Pearsall Smith (1827-1899) und Hannah Whitall Smith (1832-1911). Sie führten 1874/75 große Heiligungskongresse in Oxford und Brighton durch. Eine zusätzliche Vortragsreise Smiths durch Deutschland im Frühjahr 1875 brachte die Heiligungsbewegung auch hier zum Durchbruch. Ihre Lehre, dass die Heiligung des Christen nicht durch ein tägliches Mühen gelingt, sondern durch eine totale Hingabe an Gott, auf die er mit einem kraftgebenden Erlebnis antworten wird, wurde von vielen als Befreiung angesehen. In solcher Weise erfüllt vom Heiligen Geist entstand nun auch in manchen Kreisen der Wunsch neue Glaubenswagnisse in Bezug auf die Äußere Mission anzugehen.
2. Die Vorläufer der Glaubensmissionen: Die Freimissionare
Zunächst trat das Phänomen auf, dass einzelne Persönlichkeiten sich voller Gottvertrauen auf eigene Faust auf den Weg in die Mission machten. Diese so genannten Freimissionare waren „Missionare aus charismatischem Selbstrecht“ (Klaus Fiedler). Sie fühlten sich unmittelbar von Gott gesandt und waren theologisch meist von der Brüderbewegung geprägt, das heißt, sie lehnten alle menschlichen Strukturen und Organisationen als Fehlwege ab. Die späteren Glaubensmissionen lassen sich als Korrektur dieser Individualisten verstehen.
Anthony Noris Groves (1795-1853) war ein Zahnarzt, der nach Persien ging und dort eine Bibelübersetzung anfertigte. Er lebte nach dem „Glaubensprinzip“, d.h. er verzichtete auf ein regelmäßiges Gehalt und bat nicht um Spenden, sondern vertraute allein darauf, dass Gott ihn als Antwort auf Gebete versorgen würde. Indirekt sollte damit ein moderner Gottesbeweis geschaffen werden. Groves’ Schwager Georg Müller (1805-1898) baute in Bristol eine Waisenhausarbeit auf diesem Glaubensprinzip auf, wobei allerdings seine regelmäßigen Berichte über die Not in den Waisenhäusern als indirekte Spendenaufrufe wirkten.
Der bekannteste deutsche „Freimissionar“ war Karl Gützlaff (1803-1851). Er wurde zunächst als Missionar bei Johannes Jähnicke auf dem Berliner Missionsseminar ausgebildet, ging dann mit der Rotterdamer Mission nach Java und lernte dort Chinesen kennen. Dies führte bei ihm zu dem intensiven Wunsch in China zu missionieren, was aber von seiner Missionsgesellschaft abgelehnt wurde. Daraufhin machte er sich selbständig und begann die Bibel ins Chinesische zu übersetzen. Auf einer chinesischen Dschunke unternimmt er 1831-33 drei Reisen entlang der chinesischen Küste, und gelangt schließlich tatsächlich in das ansonsten für Missionare verschlossene China. Dort bildet er in den Folgejahren 300 einheimische Evangelisten aus, die Bibeln und Traktate bis in weit entlegene Provinzen bringen. Dadurch wurde er zum entscheidenden Impulsgeber der China-Inland-Mission.
3. Hudson Taylor - Initiator der Glaubensmissions-Idee
Als eigentlicher Begründer der Glaubensmissionen gilt der Engländer (James) Hudson Taylor (1832-1905). Er gilt als einer der bedeutendsten Missionare aller Zeiten.
Taylor wuchs in einem frommen methodistischen Elternhaus auf und erzählte Besuchern schon mit vier Jahren, dass er China-Missionar werden wolle. Nachdem er sich mit 17 zunächst vom Glauben abgewandt hatte, bekehrte er sich noch im selben Jahr (1849). Nun bereitete er sich zielstrebig auf einen Weg nach China vor, indem er zunächst eine medizinische Ausbildung machte. In einer Offenen Brüdergemeinde ließ er sich taufen und übernahm dort Georg Müllers „Glaubensprinzip“, d.h. er vertraute in Mangelsituationen ganz auf Gebetserhörungen. Taylor war nun stark von der Theologie der Heiligungsbewegung geprägt und pflegte einen asketischen Lebensstil.
In einem Anatomiekurs infizierte sich Taylor lebensgefährlich an einer septischen Leiche und war in Todesgefahr, doch er wurde geheilt.
- 1853 erreichte die (falsche!) Nachricht Europa, dass Hung, ein bekennender Christ, neuer Kaiser von China geworden sei und China nun zu einem christlichen Land machen wolle. Ohne, dass Taylor sein Medizinstudium beendet hatte, reiste er nun sofort mit der China-Evangelisations-Gesellschaft (CES) nach Shanghai aus. Dort kam er allerdings auf völlig unvorbereiteten Boden — mitten in einen Bürgerkrieg hinein. Er durchlebte eine tiefe Frustration, aber fing an Chinesisch zu lernen und auf den Flüssen mit einem Hausboot ins Landesinnere zu fahren, das noch nie ein protestantischer Missionar betreten hatte. Dort betreute er Chinesen ärztlich und verteilte Traktate. Als er bemerkte, dass die Bevölkerung mehr an seiner westlichen Kleidung und Lebensweise als an seiner Botschaft interessiert war, fing an sich (nach dem Vorbild der jesuitischen Missionare) chinesisch zu kleiden, und tatsächlich öffneten sich nun immer mehr Chinesen seiner Predigt. 1857 trennte er sich von seiner Missionsgesellschaft und schlug sich als Freimissionar in Ningpo durch. Nachdem er schon zwei gescheiterte Verlobungen mit jungen Damen aus England hinter sich hatte, traf er nun hier die Lehrerin Maria Jane Dyer, die er 1858 heiratete und die zu einer wichtigen Stütze seiner Arbeit wurde.
- 1860 kehrten die beiden zu einem 5jährigen Heimataufenthalt zurück und Taylor schloss sein Medizinstudium ab. Nun begann er eine eigene Missionsgesellschaft aufzubauen und im Jahr 1865 konnte die China Inland Mission (CIM) offiziell gegründet werden. Als Mission nach dem Glaubensprinzip erhielten die Missionare kein regelmäßiges Gehalt und man unternahm keinerlei Spendenaufrufe. Die Mission wollte völlig abhängig von Gottes Fürsorge sein.
- 1866 begann Familie Taylor mit 23 Missionaren die Arbeit in China. Zunächst kam es zu starken Spannungen innerhalb der Missionarsgemeinschaft, die nur durch den tragischen Tod von Taylors ältester Tochter wieder zusammen fanden. 1868 wurde das Missionshaus von Chinesen angegriffen und in Brand gesetzt, andere Missionare kritisierten die Arbeit Taylors heftig, die Unterstützung aus England bröckelte ab. In dieser äußerst angespannten Situation, die sogar zu Selbstmordgedanken führte, hatte Taylor 1869 eine entscheidende Heiligungserkenntnis, durch die er fortan gelassen und im völligen Vertrauen auf Jesus leben konnte. Dadurch konnte er es verkraften, dass 1870 zwei seiner Kinder und seine Frau Maria starben.
- 1871 fuhr er für ein Heimatjahr nach England, brachte die verbliebenen drei Kinder in ein Internat und heiratete die Missionarin Jennie Faulding. In der Folgezeit wuchs die Arbeit der CIM unter großen Schwierigkeiten weiter. Die Missionare trugen einheimische Kleidung und Frauen wurden als Missionarinnen selbständig verantwortlich ausgesandt. Taylor war von der Überzeugung getrieben, dass jeden Tag über 1000 Chinesen verloren gingen, weil sie das Evangelium nie gehört hatten. Unermüdlich arbeitete er daran, in alle chinesischen Provinzen Missionare zu schicken, was bereits 1882 erreicht war. Das Ziel war dabei in erster Linie die Verkündigung der Botschaft. Ein zielgerichteter Gemeindeaufbau und eine strategische Mitarbeiterausbildung wurden zunächst als sekundär erachtet. 1895 waren bereits 640 Missionare der CIM in China unterwegs. Im Jahr 1900 kam es dann allerdings in China zum Boxeraufstand, bei dem ein kaiserlicher Erlass den Tod aller Ausländer und die Auslöschung des Christentums forderte. Über 100 Missionare der CIM wurden dabei brutal ermordet, was für Taylor kaum zu verkraften war. 1905 starb er in China. Dennoch wuchs die CIM zur weltweit größten Missionsgesellschaft heran. Im Jahr 1934 erreichte sie mit 1368 Missionaren den Höhepunkt. 1950 wurden durch die kommunistische Revolution Maos schließlich alle Ausländer aus China ausgewiesen, d.h. die Missionare mussten ausweichen und verteilten sich über ganz Ostasien. 1964 gab man sich den neuen Namen Überseeische Missionsgemeinschaft (ÜMG / OMF).
Viele deutschsprachige Glaubensmissionen entstanden nach dem Vorbild der CIM, wie z.B. die Liebenzeller und auch die Marburger Mission, die zunächst unter der Koordination der CIM eigenständig Provinzen in China als Arbeitsgebiete zugewiesen bekommen hatten.
4. Die Grundsätze der China Inland Mission
- Die Mission ist interdenominationell. Missionare aus allen evangelischen Kirchen können in ihr mitarbeiten, wenn sie der Glaubensgrundlage zustimmen.
- Fragen der Kirchenordnung sind sekundär und auf dem Missionsfeld pragmatisch zu lösen.
- Missionare sind nicht Angestellte, sondern Mitglieder der Mission.
- Missionare bekommen kein Gehalt, sondern erwarten im Glauben, dass Gott sie mit allem Nötigen versorgt („Glaubensprinzipâ€?).
- Missionare mit unterschiedlicher Vorbildung sind gleichermaßen willkommen.
- Ordinierte und nicht ordinierte Missionare sind in jeder Hinsicht gleichgestellt.
- Ehefrauen gelten als Missionare und haben dieselben Möglichkeiten wie Männer.
- Ledige Frauen haben dieselben Möglichkeiten der Missionsarbeit wie Männer und können auch im selbständigen evangelistischen Pionierdienst arbeiten.
- Die Missionare identifizieren sich soweit wie eben möglich in ihren Lebensgewohnheiten mit der Kultur des Gastlandes. So tragen sie z. B. chinesische Kleidung.
- Missionare müssen bereit sein zu Verzicht, Leiden und Opfer.
- Verkündigung hat Vorrang vor institutioneller Arbeit.
- Erste Priorität der evangelistischen Arbeit ist es, allen die Chance zu geben, das Evangelium wenigstens einmal zu hören. Deswegen steht die evangelistische Reisepredigt im Zentrum.
- Die Bekehrten sind in Gemeinden zu sammeln und zur Ausweitung des Dienstes einzusetzen.
- Die Mission ist international.
- Die Leitung der Mission ist zentralistisch und liegt auf dem Missionsfeld. Die Heimatzentralen der Mission sind nur für die Vertretung der Belange der Mission im jeweiligen Land zuständig.
5. Ein Vergleich der Missionsprinzipien
- Die Missionare der klassischen deutschen Missionsgesellschaften erhielten ein regelmäßiges festes Gehalt, die Missionare der China-Inland-Mission hatten kein garantiertes Einkommen.
- Die klassischen Missionsgesellschaften haben bei Bedarf auch Schulden gemacht, die China-Inland-Mission hat aus Prinzip keine Schulden gemacht.
- Bei der China-Inland-Mission musste jeder Missionar von einer persönlichen Berufung Gottes wissen, bei den klassischen Missionen galt die Ordination durch die Heimatkirche oder Missionsgesellschaft als göttliche Berufung.
- Die meisten Missionsgesellschaften um 1860 hatten eine konfessionell-homogene Mitarbeiterschaft, bei der China-Inland-Mission arbeiteten Missionare aus allen Bekenntnissen.
- Die klassischen Missionsgesellschaften hatten eine national-homogene Mitarbeiterschaft, bei der China-Inland-Mission arbeiteten Missionare aus verschiedenen Nationen zusammen.
- Die klassischen Missionsgesellschaften sandten hauptsächlich gebildete Fachkräfte, die China-Inland-Mission rekrutierte auch viele Mitarbeiter aus unteren Bildungsschichten.
- Bei den klassischen Missionsgesellschaften galten die Ehefrauen als Unterstützung der Männer. Der Einsatz lediger Frauen wurde ganz abgelehnt. Die China-Inland-Mission betrachtete die Ehefrauen als selbständige Missionarinnen und beschäftigte auch ledige Frauen in der Pioniermission.
- Die Leitung der klassischen Missionen bestand in einem Heimatkomitee, welches die Missionare anstellte. Die China-Inland-Mission wurde auf dem Missionsfeld vom Missionarsteam selbst geleitet.
- Die Missionare der China-Inland-Mission passten sich der Kultur des Missionslandes weitgehend an, dies war vorher in der protestantischen Mission nicht üblich.
- Die klassischen Missionsgesellschaften nahmen bei Bedarf auch gerne die gewaltsame Unterstützung des Staates in Anspruch. Die China-Inland-Mission lehnte das aus Prinzip ab.
- Im Blick auf die Missionsmethode konzentrierten sich die klassischen Missionen auf die pädagogische und medizinische Arbeit auf den Missionsstationen, die China-Inland-Mission betrieb dagegen vor allem die evangelistische Reisepredigt.
- Die Eschatologie der älteren Missionen war eher postmillenialistisch, d.h. man erwartete durch die Missionsarbeit die Christianisierung der Welt, was zu Frieden und Fortschrott führen würde. Hudson Taylor dagegen hatte von der Brüderbewegung um John Nelson Darby eine prämillenialistische Eschatologie übernommen, d.h. man erwartete eine dramatische Verschlechterung der Weltverhältnisse, die durch die nahe Wiederkunft Christi zum Ende kommt. Weltmission wurde im Sinne der Erfüllung von Mt 24,14 als Beschleunigung der Wiederkunft Christi verstanden.
- Hudson Taylors Soteriologie war radikal exklusivistisch, d.h. er war der festen Überzeugung, dass es nur durch die persönliche Bekehrung zu Christus Heil gibt. Jeder Mensch, der nie das Evangelium gehört hat, oder sich nicht für ein Leben im Glauben an Jesus entschieden hat, geht ewig verloren. Diese Theologie gab den frühen Glaubensmissionen eine starke Leidenschaft und Dynamik.
Neu war, dass die Glaubensmissionen nach dem Vorbild der CIM ihre vordringliche Aufgabe darin sahen, das Evangelium zu bisher unerreichten Völkern zu tragen.
6. Die Wirkungsgeschichte der Glaubensmissionen
Im deutschsprachigen Raum führte das Vorbild der China-Inland-Mission im Laufe der Zeit zu einer Vielzahl von ähnlich geprägten Missionsgründungen.
- 1882: Neukirchener Mission
- 1889: Deutsche Allianz-Mission (FeG)
- 1890: Die Mission der deutschen Baptisten
- 1895: Der Chinazweig der Pilgermission St.Chrischona
- 1899: Die Liebenzeller Mission
- 1900: Die Sudan-Pioniermission
… und viele andere.
Heute sind die meisten Glaubensmissionen Deutschlands in der Arbeitsgemeinschaft Evangelikaler Missionen (AEM) zusammen gefasst. Dazu gehören knapp 90 Werke, die im Bereich der Landeskirchen, Freikirchen und Gemeinschaften arbeiten, und die insgesamt weltweit 2900 Missionare betreut. Ausbildungszentrum ist die Akademie für Weltmission in Korntal.
Diesen Missionsgesellschaften ist bis heute gemeinsam:
- Die Missionsmethode: Der Vorrang des evangelistischen Dienstes vor sozialer Arbeit (ohne diese aber zu vernachlässigen)
- Das Missionsmotiv: Die Überzeugung, dass Menschen nur durch eine persönliche Bekehrung das ewige Heil bekommen.
- Das Finanzierungsprinzip: Man lebt nicht von festen staatlichen oder kirchlichen Zuwendungen, sondern allein von Spenden der Missionsfreunde.