1. Die Kindheit in Großhennersdorf (1700 – 1710)
Nikolaus Ludwig von Zinzendorf wurde am 26.5.1700 in Dresden als erstes und einziges Kind seiner Eltern geboren, da sein Vater bereits sechs Wochen nach der Geburt verstarb. Seine Familie gehörte zum europäischen Hochadel und stammte ursprünglich aus Österreich. Der kleine Junge sollte Reichsgraf werden. Als seine Mutter Charlotte Justine von Gersdorf 1704 eine zweite Ehe in Berlin einging wurde der Junge zur Großmutter Henriette Katharina von Gersdorf auf dem Schloss Großhennersdorf bei Zittau (heute im Dreiländereck D-PL-CZ) gegeben. Sie war ein hochgebildete Frau, sprach fließend Französisch, Italienisch und Latein, und konnte auch Griechisch, Hebräisch, Chaldäisch und Syrisch. Die Bibel wurde in den Ursprachen gelesen. Am kursächsischen Hof (dem zweitwichtigsten in Europa, nach den Habsburgern in Wien) in Dresden hatte sie weitreichenden Einfluss und pflegte viele Kontakte in die pietistische Welt. Auch Spener und Francke kamen zu Besuch. Hier entwickelte der kleine „Lutz“ eine tiefe kindliche Jesusliebe, die allerdings schon im Alter von 8 Jahren durch eine grundsätzliche Anfechtung ging, ob Gott überhaupt existiert. Immer wieder sollte Zinzendorf in seinem Leben durch solche Zweifel-Phasen gehen, die sich nicht verstandesmäßig lösten, sondern nur dadurch, dass er gegen allen Zweifel sein Vertrauen auf Jesus setzte.
2. Die Ausbildung am Pädagogium in Halle (1710-1716)
Nach der überaus behüteten Kindheit in Großhennersdorf (draußen wurde er z.B. nur getragen oder gefahren) wird Zinzendorf am 9.8.1710 von seiner Mutter auf das Franckesche Pädagogium in Halle gebracht. Er ist der erste Reichsgraf, der die Anstalt besucht, ist somit der berühmteste Schüler und darf deswegen bei den Mahlzeiten zwischen dem Ehepaar Francke sitzen. Zinzendorfs Charakter wird zunächst von seinen Erziehern sehr negativ beurteilt. Auch ihm selbst fällt die Zeit in Halle nicht leicht. Immer wieder reibt er sich an der ängstlich-strengen Atmosphäre. Dennoch nimmt er wertvolle Impulse in sein weiteres Leben mit. Besonders hat ihn die Begegnung mit den Missionaren Plütschau und Ziegenbalg beeindruckt. Von 1714 – 1716 gründete er mit einigen anderen adligen Jungen eine feste geistliche Gemeinschaft, den Senfkorn-Orden. Es kam zu Bekehrungen und zu einer kleinen Erweckung, so dass auch Francke und die Leitung des Pädagogiums ihm zum Abschied im April 1716 gewisse Sympathien entgegenbrachte.
3. Das Jura-Studium in Wittenberg (1716-1719)
Zinzendorf plante in den sächsischen Staatsdienst zu treten und studierte daher auf Drängen seiner Vormünder ab August 1716 Jura in Wittenberg, der Hochburg der lutherischen Orthodoxie. Hier bekannte sich Zinzendorf offen als „Pietist“ und beschäftigte sich neben dem Studium soviel wie möglich mit theologischen Fragen. Er versuchte, im theologischen Streit zwischen den Pietisten in Halle und den Orthodoxen in Wittenberg zu vermitteln, musste dann aber auf Veranlassung seiner Vormünder im April 1719 das Studium abbrechen.
4. Die Bildungsreise (1719-1721)
Im Mai 1719 begann Zinzendorf eine Bildungsreise. Seine erste Station war Frankfurt, das er wegen der Verbundenheit mit seinem (1705 verstorbenen) Patenonkel Spener sehen wollte. In Düsseldorf beeindruckte ihn ein Passions-Gemälde des italienischen Malers Domenico Feti (1589 – 1624) mit der Bildunterschrift: „Ego pro te haec passus sum. Tu vero, quid fecisti pro me?“ (Ich habe dies für dich gelitten -was tust du wahrhaftig für mich?), aufgrund dessen er sein Leben neu Jesus hingibt. Im niederländischen Utrecht und in Paris lernt Zinzendorf viele verschiedene christliche Gruppierungen kennen und er entdeckt, dass es in allen Konfessionen Christen gibt, die sich in tiefer Jesusliebe in der Bibel gründen und mit denen er herzliche geistliche Gemeinschaft haben kann.
5. Justizrat am Dresdener Hof (1721 – 1726)
Im Oktober 1721 nahm Zinzendorf eine unbezahlte Stelle im Staatsdienst als Justizrat am Dresdener Hof an. Er verstand es als Vorschule für ein späteres Regierungsamt. Am 7.9.1722 heiratete er die gleichaltrige Erdmuthe Dorothea Gräfin von Reuss-Ebersdorf (1700 – 1756) aus Thüringen. Sein Eheverständnis war sehr nüchtern und praxisbezogen. Vor der Hochzeit schrieb er ihr, dass er „sich nur nach einer solchen umsehe die einen Mann haben kann als hätte sie keinen, und die Jesum Christum über alles liebet.“ Erdmuthe war praktisch sehr begabt und wurde eine kompetente Managerin für die späteren vielfältigen Arbeitsbereiche ihres Mannes.
Im Mai 1722 erwirbt Zinzendorf von seiner Großmutter das Bauerndorf Berthelsdorf bei Zittau. Das jungvermählte Ehepaar zieht in das Berthelsdorfer Schloss, er stellt einen lutherischen Pfarrer für seine Kirche an und der Reichsgraf ist nun einer von 300 reichsunmittelbaren Landesherren in Deutschland. Das Amt am Dresdener Hof füllt Zinzendorf mit der Zeit immer weniger aus, so dass er immer mehr Zeit in Berthelsdorf verbringt, was vor allem an den vielen Menschen liegt, die nun nach Berthelsdorf ziehen.
6. Die Entstehung der Herrnhuter Brüdergemeine
Schon einen Monat nachdem Zinzendorf das Gut Berthelsdorf erworben hatte, ersuchten ihn einige mährische Glaubensflüchtlinge um Asyl. Zinzendorf erlaubt ihnen, sich auf dem Hutberg (der Berg auf die Tiere gehütet wurden) westlich von Berthelsdorf anzusiedeln. Schon bald deutete man dies als einen Ort, der „unter des Herrn Hut“ steht. Nach fünf Jahren bestand die Siedlung „Herrnhut“ dann schon aus 30 Häusern mit über 200 Bewohnern aus vielen verschiedenen Gegenden und Konfessionen. Dies führte schon bald zu tiefgreifenden Spannungen, so dass Zinzendorf sich ab 1724 immer weniger um sein Amt in Dresden und immer mehr um seine Gemeinde kümmerte. Im Jahr 1727 kam es zu einer tiefgreifenden Krise in Herrnhut, da einige Gruppierungen sich von der Berthelsdorfer Gemeinde separieren wollten. Am 13.8.1727 kommt es schließlich zum Durchbruch. Bei einem Abendmahlsgottesdienst in der Berthelsdorfer Kirche versöhnen sich die streitenden Parteien und schließen sich zur Herrnhuter Brüdergemeine zusammen. Auf dem Boden der lutherischen Theologie versuchten nun die Herrnhuter Siedlung und die alte Dorfgemeinde neue gemeinsame Formen geistlichen Lebens zu entwickeln.
7. Die Gemeinschaftsformen der Brüdergemeine
Die evangelischen Kirchen nach der Reformation wurden weitgehend einseitige Pastorenkirchen. Demgegenüber entwickelte Zinzendorf nun mit seinen Mitarbeitern eine Vielzahl von revolutionären Neuerungen. Am Anfang wurden in der Gemeine verschiedene so genannte Banden eingeführt. Das waren auf Sympathie und Freiwilligkeit beruhende Kleingruppen von 3-8 Leuten, in denen man sich gemeinsam sich auf dem Weg der Nachfolge bestärkte. Die Bandenführer dieser „Beichtgemeinschaften“ tauschten sich in wöchentlichen Bandenkonferenzen aus.
Neben diesen freiwilligen Gruppen wurden jedoch auch andere gemeinschaftsbildende Kreise errichtet. Zuerst versuchte Zinzendorf eine Einteilung der Gemeine in Klassen, die nach der geistlichen Reife und Erfahrung sortiert werden sollte. Doch dieses Experiment wurde bald verworfen. Zu sehr verführte es dazu, sich und andere ständig zu zensieren. Endgültig wurden dann die Chöre das beherrschende Gliederungsprinzip. Hier wurden Menschen nach natürlichen Gruppen eingeteilt, wie unverheiratete Brüder bzw. Schwestern, junge Ehepaare. u. a. Hier war die Möglichkeit zur offenen Aussprache und Seelsorge gegeben. Vor allem die (nach Geschlechtern getrennt) gemeinsam lebenden Chöre der Ledigen verstanden sich als intensive Dienstgemeinschaften in Diakonie und Mission. Zinzendorf hatte das Ziel, dass sein Dorf ein in alle Welt strahlendes Licht in Form eines großen collegium pietatis sein sollte.
8. Die Ämterstruktur in Herrnhut
Neben diesen Gruppeneinteilungen brachte Herrnhut bald eine Vielzahl von Ämtern hervor. Alle Gaben und Befähigungen in der Gemeine sollten auch genutzt werden. Damit aber niemand in den Ruf komme, er wolle sich nur hervortun, wurde er nach Möglichkeit mit einem Amt versehen. Der Phantasie waren dabei keine Grenzen gesetzt. Es gab Älteste, Lehrer, Helfer, Aufseher, Ermahner, Diener, Krankenwärter, Almosenpfleger, Wirtschaftsaufseher, usw. Diese Demokratisierung des Amtsgedankens band viele Christen in den gemeinsamen Dienst verantwortlich ein. Zinzendorf hatte lange Zeit das Vorsteher-Amt inne, bis man es 1741 feierlich Jesus Christus als Haupt und Ältesten übertrug. Hieraus stammt auch der Brauch, bei Mahlzeiten immer einen Platz für Jesus frei zu lassen.
9. Die Kreativität Herrnhuts
Nicht nur bei Ämtern, auch bei der Einrichtung neuer Gebräuche und Feiern ließ man der Kreativität freien Raum. Es wurden Fastentage und ein 24-Stunden-Gebet eingerichtet. Man begann sich täglich in den Häusern zu besuchen und dabei seit 1728 eine Tageslosung weiterzusagen. Ab 1729 werden diese Losungen schriftlich festgehalten und seit 1731 gedruckt um auch reisende Geschwister einzubeziehen (Heute erscheinen die Losungen in 46 Sprachen in Millionenauflage). Eine weitere bekannte Einrichtung wurden die Singestunden, in denen man nicht zur Belehrung, sondern zu Anbetung und Lobpreis des Herrn zusammenkam. Zinzendorf selbst dichtete über zweitausend Lieder, häufig auch spontan während solcher Singestunden. Wie bei solchen Gelegenheiten wurden künstlerische Begabungen gepflegt und für Jesus dienstbar zu machen gesucht. Weitere Feiern wurden eingeführt. So wurde der altkirchliche Brauch der Liebesmahle wieder eingeführt, bei denen die ganze Gemeine zu einem festlichem Essen mit viel Gesang und Gebet zusammenkam. Verschiedene Jahrestage der Brüdergemeine wurden zu Festtagen, auch Gebräuche wie Fußwaschungen wurden regelmäßig praktiziert. Insgesamt hatte Zinzendorf das Ideal eines liturgischen Lebensstils. Alle falsche Trennungen von geistlichen und weltlichen Lebens sollten vermieden werden, stattdessen sollten möglichst viel Lebensvollzüge in eine geistliche Perspektive eingebettet sein. Liturgisch hieß für Zinzendorf daher soviel wie unter ständigem Aufblick zu Jesus. Von allen Sachen, sie haben Namen, wie sie wollen, wünsche ich, dass ein liturgischer Geist drein komme Konsequent wurde sie bezogen auf die Arbeitswelt, auf die Eheführung (mit manchen fragwürdigen Ausprägungen), bis hin zum liturgischen Einschlafen und Aufwachen.
10. Von Herrnhut nach Herrnhag
Ab 1731 verstärkte sich der staatliche Widerstand gegen die Entwicklungen in Berthelsdorf. Vor allem wegen der Aufnahme glaubensfremder Flüchtlinge kam Zinzendorf in Rechtskonflikte, die im März 1736 zu seiner Ausweisung aus Sachsen führten. Seine Güter musste Zinzendorf seiner Frau übereignen. Die Herrnhuter Brüdergemeine selbst wurde überprüft und durfte bestehen bleiben, sich aber nicht über Herrnhut hinaus weiter ausbreiten. In dieser Zeit legte Zinzendorf noch ein theologisches Examen ab und bekam in Tübingen die Zulassung für das geistliche Amt. Zinzendorf verstand sich nun als umherziehender Pilger bis er schließlich in der hessischen Wetterau die Gemeinden Marienborn (1736) und Herrnhag (1738) gründen konnte, die mit der Zeit größer wurden als Herrnhut selbst. In Marienborn wurde er 1737 auch zum Bischof der Brüder-Unität ordiniert.
11. Die Missionsarbeit
Von Beginn an betonte Zinzendorf den Sendungsaspekt seiner Arbeit. Die in Herrnhut erlebte Gemeinschaft im heiligen Geist sollte in alle Welt getragen werden. Schon 1727 wurden Brüder nach Jena und Dänemark geschickt, 1728 nach London. Im Jahr 1732 sandte man dann die ersten Heiden-Missionare auf die karibische Insel St.Thomas um schwarzen Sklaven das Evangelium zu bringen. Herrnhuter evangelisieren unter Sklaven, Eskimos, Hottentotten und Indianern. Oft durchs Los bestimmt gehen Herrnhuter Brüder und Schwestern meist spärlich ausgebildet in 28 Missionsgebiete. Bis 1760 werden 200 Herrnhuter Missionare ausgesandt, ihre Zahl übertrifft die Halleschen Missionare bald um ein Vielfaches. Durch den Verzicht auf eine konfessionelle Prägung und die Unabhängigkeit von Kolonialmächten hatten die Herrnhuter Missionsgründungen eine große Ausstrahlung. Zinzendorf selbst verbrachte viele Jahre auf den Missionsfeldern, wo er oft für großes Aufsehen sorgte. So begrüßte er als Reichsgraf eine Christ gewordene schwarze Sklavin mit einem Handkuss. Er lebte mit Indianern zusammen und war tief beeindruckt von der Ursprünglichkeit ihres Lebens. Anfang der vierziger Jahre versucht Zinzendorf viele der ihn beeindruckenden Erscheinungen eines ursprünglichen Lebensstils auch in seinen Gemeinden wieder zur Geltung zu bringen, womit er maßgeblich den Überschwang der Sichtungszeit einleitet. Doch deutlich wird hier, dass die Missionspraxis nicht zur Einbahnstraße wurde, sondern auch Anregungen nach Deutschland brachte. Die Missionsarbeit führte dazu, dass die Brüder-Unität heute 762.000 Mitglieder in 30 Ländern umfasst.
12. Die Sichtungszeit in Herrnhag und die letzten Lebensjahre
Zinzendorf sah in den neuen englischen Kolonien Nordamerikas die eigentlich Zukunft, weil dort Glaubens- und Gewissensfreiheit herrschte. Er besuchte 1738 St. Thomas und 1741 Pennsylvanien. Die dortige Brüdersiedlung Bethlehem wurde ein starker Stützpunkt für die Herrnhuter. Nach seiner Rückkehr aus Amerika entließ er ältere Mitarbeiter und setzte Jugendliche in Führungspositionen. In bewusstem Gegensatz zur vernunftbetonten Aufklärung und zum strengen hallischen Pietismus versuchte Zinzendorf jetzt die unmittelbare kindliche Erlösungsfreude in den Mittelpunkt zu stellen. Dazu führte er viele Verkleinerungsformen in den Sprachgebrauch ein (Lämmlein, Sünderlein usw.). Die Jesusliebe wurde mit einer Konzentration auf die Wunden Jesu verbunden, so dass es einen regelrechten Kult um „Jesu Seitenhöhlchen“ gab, in das der Christ im Glauben liebevoll hineinkriecht. Beispiel: „Für Wunden-Würmelein verliebt in seine vier Nägelein, für Kreuz-Luft-Vögelein, kränkelnd vor Liebespein nach Jesu Seitenschrein. Seid Kreuz-Luft-Vögelein und Täucherlein, fahret ins Loch hinein, das ihm der Speer geritzet?“ (Brüdergesangbuch Jahrgang 1746).
Nachdem Zinzendorf im Frühjahr 1748 aus Herrnhag zu einer Reise aufgebrochen war, glitt die Gemeinde unter der Führung seines Sohnes in immer skurilere Extreme ab. Teilweise hielt man das 1000-jährige Reich für verwirklicht, so dass Zinzendorf selbst im Februar 1749 eingreifen musste. Dies konnte aber nicht mehr verhindern, dass 1750 alle fast 1000 Bewohner Herrnhags ausgewiesen wurden. Zinzendorf interpretierte diese Jahre in Herrnhag später als eine „Sichtung des Satans“. Zinzendorf selbst durfte seit 1747 Herrnhut Herrnhut wieder betreten. Er blieb aber weiterhin viel auf Reisen, und wohnte ab 1750 meist in London, ab 1755 dann wieder in Herrnhut. Nach dem Tod seiner Frau 1756 heiratete er noch seine langjährige Mitarbeiterin Anna Nitschmann, bevor er am 9.5.1760 in Herrnhut starb.
13. Theologische Grundlinien Zinzendorfs
a. Gegen die Moralisierung des Christentums durch die Aufklärung
Was ist denn die Hauptsumme des Evangeliums, wonach man vor allem Dingen zu fragen und alle Gemeinschaft im Geistlichen darauf zu gründen hat? Das nenne ich, nach meiner persönlichen Art mich auszudrücken, die persönliche Konnexion mit dem Heilande
In einer Zeit, da aller persönlicher Glaube sich immer mehr verflüchtigte und zur Tugendreligion der Aufklärung wurde, sah Zinzendorf mit größter Leidenschaft die Beziehung zu Jesus Christus als Zentrum seines Lebens und seine Gemeinde. Eine rein rationale Erkenntnis der Existenz Gottes im Sinne der Aufklärung hielt er für gefährlich: „Wer Gott im Kopfe weiß, der wird Atheist!“. Christsein verwirklicht sich nur in der persönlichen Beziehung zu Jesus: „Ohne Jesus wäre ich Atheist!“
b. Gegen die Gesetzlichkeit des Franckeschen Pietismus
Zinzendorf verwarf den Bekehrungsmethodismus, der nur eine bestimmte Art von Bekehrung als Zeichen echten Christseins anerkennen wollte. Ebenfalls wurde eine einseitige Bußfrömmigkeit abgelehnt, die den Kampf mit der eigenen Sündhaftigkeit und moralische Anstrengung ins Zentrum des Glaubens setzt. Demgegenüber griff Zinzendorf wie kein anderer bedeutender Pietist nachdrücklich auf Luther zurück und betonte den Glauben an Christus als Ursprung des neuen Lebens.
c. Gegen die Zurückgezogenheit des radikalen Pietismus
Gegenüber Vertretern des radikalen Pietismus führte die Losung „Jesus allein“ aber auch zu einem fröhlichem Handeln aus dem Glauben, der nicht zu einem passiven Quietismus werden darf.
d. Gegen das Vollkommenheitsstreben des Methodismus
Zinzendorf lehnte jede Hoffnung auf Vollkommenheit der Gläubigen von Luther her ab. Im Streit mit John Wesley betonte Zinzendorf nachdrücklich das lutherische simul justus et peccator. Der Mensch könne nicht durch gewissenhafte Heiligung eine Vollkommenheit und Sündenfreiheit auf Erden erreichen. Vielmehr bleibe allein Christus die vor Gott gültige Gerechtigkeit.
e. Gegen Endzeitspekulationen der Württemberger
Sein Christozentrismus ließ ihn aber auch Abstand halten zu heilsgeschichtlichen Spekulationen, wie er sie etwa bei Johann Albrecht Bengel bemerkte. Während dieser ihm vorwarf, durch sein Losverfahren den Zusammenhang der Schrift zu zerstören, wollte Zinzendorf das Evangelium von Christus nicht in falsche Systeme pressen.
f. Für die Unverzichtbarkeit der Gemeinschaft
„Ich statuiere kein Christentum ohne Gemeinschaft“. So wie der Glaube nicht nur als graue Theorie gelebt werden kann, sondern der persönlichen Beziehung bedarf, so ist er auch auf die Verwirklichung in einer konkreten Gemeinde angewiesen. Zinzendorf bejahte durchaus den Trend zu seiner Zeit zu immer stärkerer Individualisierung. Der Glaube will persönlich angeeignet werden, und dabei die Persönlichkeit des Christen nicht verdrängen, sondern entfalten. Gerade dazu braucht jeder Einzelne aber auch die Hilfe und die Korrektur von Brüdern und Schwestern. „Eine Gemeine ist der einzige Beweis gegen den Unglauben“.
g. Für eine konfessionsübergreifende Zusammenarbeit aller, die Jesus lieb haben
Früh vertrat Zinzendorf eine Ökumene derer, die Jesus Christus nachfolgen. Die Einheit der Kirche sah er im Versöhnungsopfer Jesus als schon gegeben an, so dass sie nicht erst durch äußere Unionen herbeigeführt werden musste. Er entwickelte später seine so genannte Tropenlehre aus dieser Grundhaltung. Demnach ist jede Konfession nur eine von vielen unterschiedlichen Erziehungsweisen (tropoi paideiav) Gottes. Die Brüdergemeine sollte nicht eine neue Konfession werden, sondern in verschiedenen Konfessionen eine Ausrichtung auf die Mitte Jesus Christus bewirken. Alle großen Konfessionen haben ein besonderes Charisma, aber auch eine besondere Gefährdung. Zinzendorf sah seine Brüdergemeine jedoch vor allem in der lutherischen Konfession verwurzelt
h. Für eine klare Unterscheidung der Geister
Neben aller Offenheit für Mitchristen aller Schattierungen gab es auch Grenzen der Gemeinschaft. Zinzendorf bemühte sich sein ganzes Leben um allerlei Querdenker, vor allem in der Auseinandersetzung mit der charismatischen Inspiriertengemeinde um Friedrich Rock. Hier begegnete Zinzendorf einer enthusiastischen Frömmigkeit, die sich im Umfallen, Zittern, Prophetien und vielleicht auch Zungenrede ausdrückte. Zinzendorf hatte großen Respekt vor Rock, und wollte solche Phänomene nicht ungeprüft verwerfen. Mit der Zeit jedoch wurde der Graf zunehmend skeptisch, bis es zum Bruch mit Rock kam. Als zunehmend unbiblische Praktiken mit göttlicher Vollmacht erklärt wurden, ging Zinzendorf auf Distanz. In der späteren Sichtungzeit (1743 – 1750) bewies man am Ende, dass man auch realistisch genug war, die eigene Fehlbarkeit selbst bei besten Absichten zu sehen.
14. Der weitere Weg Herrnhuts
Nach Zinzendorfs Tod 1760 wurde die Brüdergemeine von August Gottlieb Spangenberg weitergeführt. Er prägte die Gemeinschaft zu dem, was sie heute noch auszeichnet: „Die Stillen im Lande, die durch eine hohe menschliche Kultur und erzieherische Weisheit ein Vorbild christlicher Bescheidenheit und Nächstenliebe geben und persönliche Schlichtheit mit theologischer Tiefe sowie ökumenischer Weite vereinigen.“ (M.Schmidt, 108) Den Herrnhutern gelang es, den schlichten Bibelglauben und die tiefe Jesusliebe durch die Zeit der Aufklärung hindurch zu bewahren. Im 19.Jh. wuchsen einflussreiche Persönlichkeiten wie Novalis oder Kierkegaard in herrnhutischer Frömmigkeit auf. Auch Schleiermacher verstand sich als „Herrnhuter höherer Ordnung“. Der herrnhutische Geist gab der Erweckungsbewegung des 19.Jahrhunderts wichtige Impulse.