1. Die Jugend in Rappoltsweiler (1635 – 1651)
Philipp Jakob Spener wird am 13.1.1635 (also mitten im Dreißigjährigen Krieg) im elsässischen Rappoltsweiler (Ribeauville) als erstes von 9 Kindern in eine orthodox-lutherische Familie geboren. Sein Vater ist Jurist des evangelischen Fürsten von Rappoltstein. Hier am Hof bekommt Spener eine höfisch-asketisch-fromme Grundprägung. Er liest Lewis Baylys Praxis Pietatis und Johann Arndts Vier Bücher vom wahren Christentum und wird ein ernsthaft frommer Lutheraner.
2. Studium in Straßburg (1651 – 1659)
Spener studiert zunächst drei Jahre lang Philosophie im vom 30-jährigen Krieg unberührten Straßburg. Er versucht in seiner Magisterarbeit die Ethik aus der natürlichen Theologie abzuleiten. Anschließend folgen sechs Jahre Theologiestudium in Straßburg im Geist der lutherischen Orthodoxie. Hier lernt er biblisch genaue Exegese, er eignet sich die lutherisch-orthodoxe Dogmatik an und vertieft die Verbindung zur Erbauungsliteratur von Arndt und Bayly.
3. Speners Bildungsreisen von 1659 – 1662
Im Anschluss ans Studium waren damals Studienreisen an anderen Universitäten üblich. 1659 geht Spener zunächst für ein Jahr nach Basel um bei dem Hebraisten Johann Buxtorf den Talmud und das rabbinische Schrifttum besser kennen zu lernen. Buxtorf fördert in Spener die Ansicht, dass die einfache biblische Lehre einer scholastischen Dogmatik vorzuziehen ist. 1660/61 geht er nach Genf, wo er unter anderem Jean de Labadie begegnet. Spener ist von dessen Forderung einer Rückkehr zum biblischen Urchristentum sehr beeindruckt. In Lyon trifft er Claude-Francois Menestrier, den Vater der Heraldik (Wappenkunde). Durch ihn angeregt führte Spener die Heraldik in Deutschland ein. 1662 geht Spener nach Tübingen. In dieser Zeit lernt er das Buch „Wächterstimme aus dem verwüsteten Zion“ vom Rostocker Theophil Großgebauer kennen. Dieser fordert eine individuelle, datierbare Bekehrung mit Bußkampf und verwarf alle instrumentale Kirchenmusik. Spener bezeugte, dass Großgebauers Buch ihm die Augen für den Schaden der Kirche geöffnet hat.
4. Zurück in Straßburg (1662 – 1666)
Spener war hin- und hergerissen, ob er eine kirchliche oder universitäre theologische Laufbahn einschlagen sollte. 1663 wird er Freiprediger (d.h. ohne Kasualien und Seelsorge) am Straßburger Münster und promoviert schließlich 1664 schließlich zum Doktor der Theologie (was damals sehr selten war). Am 23.6.1664 feierte er seine Promotion und gleichzeitig (um Kosten zu sparen) seine Hochzeit mit der 20-jährigen Susanne Ehrhardt, mit der er 11 Kinder bekam. Die beiden blieben zunächst in Straßburg, um auf eine frei werdende Professur zu warten.
5. Senior in Frankfurt (1666 – 1686)
Im Juli 1666 wird Spener (mit 31 Jahren!) als Senior nach Frankfurt berufen, d.h. er sollte das Kollegium der zwölf Pfarrer leiten, welche die ca. 15.000 Lutheraner der Stadt versorgten. Ihm gelingt es die zerstrittene Frankfurter Situation gut zu einen. Im Zentrum seines Dienstes stand die Ausarbeitung von lebensnahen und praktischen Predigten in der Barfüßerkirche (heute steht dort die Paulskirche). Er beginnt neben den festgelegten Evangelienperikopen auch über die ntl. Briefe zu predigen. Spener erarbeitet einen Katechismus, der sehr praktisch ausgerichtet war und fördert die Einrichtung der Konfirmation. Er bringt den Frankfurter Magistrat 1679 dazu, ein städtisches Armen- und Waisenhaus einzurichten und setzt sich aus missionarischen Gründen für eine gute Behandlung der ca. 2000 Juden in Frankfurt ein. Er hilft dem Gedanken der Judenmission in Deutschland zum Durchbruch (an Heidenmission denkt er nicht). In den ersten 10 Jahren in Frankfurt liest Spener zum ersten Mal intensiv alle Lutherschriften und wird von ihm stark inspiriert. Diese starke Gründung in der Theologie Luthers gab Spener in der Folgezeit den Mut sich unter Berufung auf Luther für eine Erneuerung der lutherischen Kirche einzusetzen.
6. Die Collegia Pietatis
Im Sommer 1670 wird Spener von 4-5 theologisch gebildeten Männern gebeten, sich mit ihnen regelmäßig zum erbaulichen Gespräch zu treffen. Sonntags und Mittwochs traf man sich nun nach der kirchlichen Betstunde. Spener las aus einem Erbauungsbuch, kommentierte es und öffnete dann das freie Gespräch. Ziel war ein gegenseitiges Anspornen zur Frömmigkeit.
Die Einrichtung der Treffen war also keine planvolle Idee Speners. Gegen Ende des Jahres war der Kreis auf 20 Männer angewachsen, nach und nach verlagerte sich das Schwergewicht auf einfache, ungebildete Leute. 1674 ersetzte man die Lektüre durch das Studium von Bibeltexten, 1675 war der Kreis auf 50 Besucher angewachsen. Vorbilder für ein solches Treffen gab es kaum. Spener selbst beruft sich nur auf ein seit 1650 in Amsterdam bestehendes anerkanntes Kollegium.
7. Die Pia Desideria (1675)
Ein Frankfurter Verleger bittet Spener im Frühjahr 1675 um ein Vorwort zu einer Neuauflage von Johann Arndts Predigtsammlung. Spener wusste, dass sich dieses Buch weit verbreiten wird und er nutzt die Chance um in seinem Vorwort auf ca. 100 Seiten ein grundsätzliches Programm zur Kirchenerneuerung entwirft. Dieser Text weckt so starkes Interesse, dass er im Herbst als eigenes Buch erscheint, unter dem Titel: „Pia Desideria [dt.: Fromme Wünsche] oder Hertzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren Evangelischen Kirchen“. Inhaltlich geht es um Folgendes:
Vorrede:
Angesprochen sind nicht die Laien, sondern die Pfarrer (kirchenleitenden Theologen), von ihnen soll die Veränderung ausgehen, in der Hoffnung auf Gottes Handeln
1. Teil: Diagnose:
Das geistliche Elend der drei Stände: Obrigkeit, Theologen, Laien So werden sich weder Juden noch Katholiken zum wahren evangelischen Glauben bekehren!
2. Teil: Prognose:
Biblisch ist klar: Das Judentum wird sich bekehren (Rm 11), Babel = die kath. Kirche wird fallen (Offb 18-19). D.h. wir gehen herrlichen Zeiten entgegen! Lasst uns Juden bekehren, Rom schwächen und die evangelische Kirche auf die Zukunft einstellen! (Das ist Postmillennialismus!)
3.Teil: Therapie: Reformprogramm:
- Bibelvertiefung durch Collegia Pietatis nach 1.Kor 14
- Allgemeines Priestertum = Förderung der Mitarbeit von Laien
- Tatchristentum (praxis pietatis)
- Weniger Religionstreitigkeiten
- Theologiestudiums-Reform durch vorbildliche Mentor-Professoren und durch Collegia Pietatis
- Erbaulichere Predigten
Die ersten beiden Aspekte werden durch Luther gedeckt, die anderen vier durch Arndt. Einige typisch lutherisch-orthodoxe Reformanliegen sind weggelassen: Kirchenzucht, Sonntagsheiligung, Staat und Kirche. Als Spener merkt, dass die Pfarrerschaft nur sehr zögerlich auf sein Reformprogramm eingeht, konzentriert er sich ab Sommer 1675 noch stärker auf die Idee, dass einzelne willige Pfarrer ihre Kerngemeinde in Collegia Pietatis sammeln. Er beruft sich dabei jetzt auf Luthers Vorrede zur deutschen Messe von 1526 und prägt die Formel einer „ecclesiola in ecclesia“ (Kirchlein in der Kirche). Genau dies ist die eigentliche Geburtsstunde des Pietismus: die Abkehr vom volkskirchlichen Konzept durch die Einführung von innerkirchlichen Gemeinschaften von ernsthaften Christen.
8. Die Frankfurter Zeit nach den Pia Desideria (1675 – 1686)
Das Frankfurter Collegium Pietatis wuchs immer mehr, so dass es 1682 vom Pfarrhaus in die Barfüßerkirche verlegt wurde. Bei 200-300 Teilnehmern nahm das persönliche Element natürlich immer mehr ab, so dass sich die Gründungsmitglieder des Collegiums um Johann Jakob Schütz immer mehr distanzierten und einen eigenen Kreis im Saalhof gründeten. Die Saalhofpietisten hielten sich vom kirchlichen Abendmahl fern, so dass Spener nach langem Ringen 1685 auch selbst den Kontakt zu ihnen abbrach. Bei aller Offenheit für Mystik und Kirchenkritik sah Spener immer seinen Platz in der Kirche! Über Frankfurt hinaus kam es in den ersten 10 Jahren nach Erscheinen der Pia Desideria nur zu wenigen kleineren Umsetzungsversuchen. Spener war hauptsächlich damit beschäftigt Angriffe abzuwehren.
9. Oberhofprediger in Dresden (1686 – 1691)
1686 bekommt Spener den Ruf auf die bedeutendste Stelle des Luthertums als Oberhofprediger in Dresden. Äußerlich waren die Jahre dort ein Misserfolg. Ein Collegium Pietatis kann er nicht gründen, die Pfarrerschaft bleibt distanziert und am Ende kommt es zu einem großen Streit mit dem Kurfürsten. Was aus dieser Zeit blieb sind vor allem drei Predigtbände Speners, die Einführung des Katechismusunterrichts im ganzen Land und vor allem der Kontakt zu August Hermann Francke, der 1689 an der Universität Leipzig dem Pietismus zum eigentlichen Aufstieg verhalf.
10. Propst in Berlin (1691 – 1705)
1691 war Spener froh Dresden zu verlassen und ging nach Berlin. Als Propst von St.Nicolai sorgte er für eine staatliche Armenfürsorge und gewann die politische Führungsschicht für den Pietismus. Die Pfarrerschaft blieb auch hier eher ablehnend. Ein Collegium Pietatis gründete er nicht selbst (nur ein biblisches Collegium mit Theologiestudenten), aber unterstützte es. Entscheidend in dieser Phase war die Gründung der neuen brandenburger Universität in Halle. Spener gelingt es durch geschickte Professorenberufungen Halle zum Zentrum des Pietismus zu machen. Am 5.2.1705 stirbt Spener in Berlin und lässt sich in weißen Kleidern und einem weißen Sarg als Zeichen der Hoffnung auf bessere Zeiten beerdigen.
11. Bewertung Speners
- Spener machte aus einer Arndtschen Frömmigkeitsbewegung eine kirchliche Reformbewegung
- Spener führte die Theologie von philosophischer Bevormundung zurück zur Bibel
- Die Betonung des allgemeinen Priestertums führte zu einer langanhaltenden Neubelebung des Gemeindelebens.
- Damit passte sich das protestantische Christentum zugleich gut in den Indiviualisierungsschub der Aufklärung ein.
- Spener konnte das Separations-Misstrauen nie richtig entkräften, weil er auch den Separatisten den lebendigen Glauben nicht absprechen wollte.
- Spener hat kein Bekehrungserlebnis. Er steht noch ganz in der lutherischen Tradition, Anfechtungen auszuhalten. Erst bei Francke kommt es zum Durchbrechen im Gebetskampf. In dieser Bekehrungsfrage ist der Pietismus Francke statt Spener gefolgt!
- Soteriologisch blieb Spener ganz in orthodoxen Bahnen, er verknüpfte nur Rechtfertigung und Wiedergeburt wieder stärker.
- Spener gab damit dem Pietismus das Selbstbewusstsein, auf dem Boden der Reformation zu stehen und er hielt den lutherischen Pietismus innerkirchlich.
- Spener gab dem Pietismus auch den Blick für die soziale Verantwortung mit auf den Weg.
- Die Idee der Collegia Pietatis sollte in der Folgezeit der entscheidende Motor des Pietismus werden.