Symposium 2021 - Kopf und Herz vereint zusammen

Neupietismus-Symposium 2021

 

Tagungsbericht

7. Symposium der Forschungsstelle Neupietismus

der Ev. Hochschule TABOR

29.-30. Januar 2021 in Marburg

Kopf und Herz vereint zusammen

Grundlagen pietistischer Hochschulbildung

Das 7. Neupietismus-Symposium fand im Januar 2021 aufgrund der Reise- und Versammlungsbeschränkungen wegen der Corona-Pandemie zum ersten Mal vollständig online statt. Die Vorträge der Referierenden konnten von den 40 teilnehmenden Personen des Symposiums als Videos angeschaut werden. Danach traf man sich dann jeweils in einer Videokonferenz per Zoom, um über das gehörte Referat zu diskutieren.
Dabei ging es um die Frage, wie eine pietistisch geprägte Hochschulbildung aussehen kann. Diese Thematik hat gerade in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung zugenommen, da seitdem einige pietistisch-evangelikale Ausbildungsstätten die staatliche Anerkennung als private Hochschulen erhalten haben und nun die Frage entstand, ob und inwiefern der Pietismus eine profilschärfende Funktion für die besondere Verbindung von Glaube und Wissenschaft, von Frömmigkeit und akademischer Bildung haben kann. Dazu wurden sowohl einige historische Analysen vorgelegt, als auch systematisch- und praktisch-theologische Horizonte eröffnet. 

Einleitend wurde das Tagungsthema zunächst von Prof. Frank Lüdke (Marburg) kurz umrissen. Er machte in einem historischen Überblick deutlich, dass das enge Zusammenspiel zwischen Kopf und Herz, also zwischen Hochschulbildung und Frömmigkeit, in der Zeit des Pietismus um 1700 eine kurze Blütezeit an den deutschen Universitäten erlebte, dann aber über fast drei Jahrhunderte nur sehr punktuell verwirklicht wurde, bevor man gegen Ende des 20. Jahrhunderts neu anfing, auch wieder konzeptionell darüber nachzudenken.
Im ersten Hauptreferat stellte Prof. Ulrike Treusch (Gießen) dann Philipp Jakob Speners (1635-1705) Gedanken zu einer Reform des Theologiestudiums vor, wie er sie in der Programmschrift „Pia desideria“ (1675) erstmals einer größeren Öffentlichkeit präsentiert hatte. Um ‚gottselige‘ Studenten zu erziehen, bedürfe es nach Spener einer Verknüpfung von „eruditio“, des wissenschaftlichen Studiums, und „pietas“, des frommen Lebenswandels, der durch das Vorbild der Professoren und durch akademische Konventikel gefördert werde. Neben der Darstellung der zeitgenössischen Umsetzung und Modifizierung von Speners Vorschlägen warf Treusch einen Blick in die Gegenwart und sah z.B. in akademischen collegia pietatis als Orten geistlicher Studienbegleitung einen heute noch aktuellen Aspekt der spenerschen Reformvorschläge. 
Anschließend analysierte Prof. Norbert Schmidt (Marburg) die Hintergründe und Begleitumstände der so genannten „Causa Wolffiana“, d.h. der Ausweisung des Philosophie-Professors Christian Wolff aus Halle im Jahr 1723. Es waren die Pietisten an der Universität zu Halle, die damals für die Ausweisung Wolffs verantwortlich waren, der dann seinerseits an der Universität in Marburg Zuflucht fand. Deshalb gilt Wolff dabei gemeinhin als Vorkämpfer der Aufklärung gegen einen anscheinend rückwärtsgewandten Pietismus. Aber stimmt diese Darstellung? An den Fakten ist nicht zu rütteln, aber der Fall sei nach Schmidt komplexer, als eine solche vereinfachende Geschichtsschau vorspiegelt. Gerade deshalb biete dieses historische Ereignis Herausforderungen für die Gegenwart und schärfe den Blick auf die Frage, ob und inwiefern die wissenschaftliche Freiheit von Forschung und Lehre an einer pietistischen Hochschule grundsätzlich denkbar ist.
Im dritten Vortrag erörterte Prof. Thorsten Dietz (Marburg) die Frage, wie die pietistischen Theologen Adolf Schlatter (1852-1938) und Karl Heim (1874-1958) persönlichen Glauben und theologische Wissenschaft miteinander verbunden haben. Auf der einen Seite sahen beide, dass sich der christliche Glaube den Umwälzungen des modernen Natur- und Geschichtsverständnisses stellen muss. Auf der anderen Seite aber lehnten beide ein neuprotestantisches Theologieverständnis ab, für das der Glaube an Gottes Wirken in dieser Welt und die wissenschaftliche Theologie nichts mehr miteinander zu tun haben. Bis heute sei es faszinierend und anregend, so Dietz, wie beide die wissenschaftlichen Methoden ihrer Zeit für eine offene Wahrheitssuche genutzt hätten, ohne einer fundamentalistischen oder naturalistischen Ideologisierung des Denkens zu erliegen.
Nach diesen ersten drei historischen Analysen, die sich ganz auf den deutschen Kontext konzentrierten, wurde am Abend des ersten Konferenztages ein transatlantischer Blickwinkel in die Konferenz integriert, indem Prof. Christopher Gehrz von der Bethel University in St. Paul (Minnesota) aus den USA zugeschaltet war. Er gab interessante Einblicke in die US-amerikanische Bildungslandschaft, insbesondere in Bezug auf die ca. 150 christlichen Hochschulen, die im Council for Christian Colleges & Universities (CCCU) zusammengeschlossen sind und die bewusst eine Integration von Frömmigkeit und Wissenschaft anstreben. Unter dem Thema „The pietist vision of Christian higher education“ unterschied Gehrz innerhalb dieser Institutionen noch einmal zwischen evangelikalen und dezidiert pietistischen Hochschulen. Letztere (wie seine eigene) seien vor allem durch drei Charakteristika besonders gekennzeichnet: einer ganzheitlichen geistlichen Prägung der Persönlichkeit, einer auf Jesus fokussierten Gemeinschaft sowie durch einen irenischen, d.h. friedliebenden Geist angesichts innerchristlicher Divergenzen und Konfliktlinien.

Der zweite Tag des Symposiums begann mit einer Morgenandacht von Prof. Frank Lüdke zum Tagestext aus Luk. 7, 18-23, der aus der Sicht des Konferenzthemas beleuchtet wurde.
Anschließend folgte das erste Hauptreferat von Prof. Johannes Zimmermann (Marburg), in dem er die Frage nach Grundlinien pietistischer Hochschulbildung mit dem Vorschlag einer Konzentration auf die „Kernchristen“ und „Willigen“ in den Pia Desideria von Philipp Jakob Spener verknüpfte. Darüber hinaus schlug er Bücken zum gegenwärtigen Bildungsdiskurs, indem er dabei auf die Diskussion zu „missionarischer Bildung“ rekurrierte. Außerdem zeigte er auf, wie in der Religionspädagogik der Ansatz beim „Christsein-Lernen“ (Christian Grethlein) mögliche Anknüpfungspunkte biete. Die Chancen pietistischer Hochschulbildung sieht Zimmermann vor allem in einer Verbindung und Integration von fachlichen Kompetenzen, Persönlichkeitsbildung und Spiritualität. Im Spannungsfeld von wissenschaftlicher Bibelauslegung und „geistlicher“ Bibellese werde das Anliegen konkret, „Kopf und Herz“ miteinander zu „vereinen“. 
Danach folgte ein Vortrag von Dr. Bernhard Knorn von der katholischen Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main. Er zeigte auf, wie seine eigene Hochschule mit ihrem Motto „pietati et scientiae“ eine Maxime ausdrückt, die große Ähnlichkeiten mit dem pietistischen Kontext hat. Im Jesuitenorden, der die Hochschule trägt, bedeute pietas im Studium einen Gottesbezug, der nicht so sehr von individualistischer Frömmigkeit, sondern von Sensibilität für die Fragen der Welt geprägt ist. Ob aber der persönliche Glaube als notwendige Grundlage für die theologische Erkenntnis zu gelten habe, sei in der katholischen Theologie umstritten. Sie sei jedenfalls an Gott als Geheimnis verwiesen, dessen Offenbarung menschliche Beziehungen zu Jesus Christus stifte. Insofern erinnere pietas an die Ehrfurcht vor dem immer größeren Gott, der doch nahe ist – und die Theologinnen und Theologen in die Welt hinaus führen möchte!
Das abschließende Referat von Prof. Heinzpeter Hempelmann (Schömberg) trug den Titel „Pietas als Stachel und Herausforderung für Scientia“. Er betonte darin, dass es keine Erkenntnis ohne Demut, kein Wissen ohne Glauben, keine Vernunft ohne Liebe, keine gelingende Wissenschaft ohne Respekt vor der von ihr nicht zu beantwortenden Gottesfrage gebe! Nicht nur Pietas brauche die kritische Rationalität, wenn sie sich nicht versteigen und häretisch werden will; auch die Scientia brauche die Pietas, wenn sie gelingen will und nicht pervertieren soll. Von Albert Einstein, der sich sehr um eine Verhältnisbestimmung von Religion und Wissenschaft bemühte, ist der Satz überliefert: „Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft blind.“ Nach Hempelmann dürften wir dieses Verhältnis nach den vorangegangenen Reflexionen sogar noch schärfer fassen: Wissenschaft ohne das Gegenüber von Religion sei nicht nur lahm, sondern sie verliere sich sogar und drohe zur bloßen Weltanschauung zu werden. Religion ohne das Gegenüber von Wissen und Wissenschaft wiederum sei nicht nur blind, sie drohe sich in ihr Gegenteil zu verkehren und aus der Anbetung Gottes in eine Selbstvergottung des – nicht mehr frommen – Ichs zu degenerieren.
In der Abschluss-Diskussion wurde deutlich, dass die Frage nach dem besonderen Profil einer pietistisch geprägten Hochschulbildung im Laufe der Konferenz viele anregende Impulse geliefert hat.

Prof. Dr. Ulrike Treusch: “Was macht ein Theologiestudium pietistisch?”

Prof. Ulrike Treusch erklärt, warum Philipp Jakob Speners pietistische Ideen für eine Reform des Theologiestudiums von 1675 bis heute aktuell sind!

https://youtu.be/DvXiouI6kp4

Prof. Dr. Norbert Schmidt: “Causa Wolffiana“

Ist Freiheit von Forschung und Lehre an einer pietistischen Hochschule überhaupt denkbar? Dieser spannenden Frage geht Prof. Norbert Schmidt in seinem Vortrag auf dem 7. Neupietismus Symposium nach.

https://www.youtube.com/watch?v­wAdd-IqQ6xc

Prof. Dr. Thorsten Dietz: “Gottes Handeln in der Geschichte”

Muss man sich entscheiden zwischen einer bibeltreuen Theologie, die sich von der modernen Wissenschaft abgrenzt und einer aufgeklärten Theologie, die nicht mehr vom Handeln Gottes reden kann? Hier die Antwort von Prof. Thorsten Dietz. 

https://youtu.be/Usa7IFj_t0Q

Prof. Dr. Christopher Gehrz: "A pietist vision of christian higher education"

Prof. Dr. Christopher Gehrz from Bethel University St. Paul, Minnesota (USA) explains the pietist vision of christian higher education.

Prof. Dr. Christopher Gehrz von der Bethel University St. Paul, Minnesota (USA) erklärt die pietistische Vision christlicher Hochschulbildung.

https://www.youtube.com/watch?v=1YOQeAirciY

Prof. Dr. Johannes Zimmermann: "'Christsein lernen' im Kontext pietistischer Hochschulbildung"

Pietistische Hochschulbildung - was ist das genau? Gibt es das überhaupt? Prof. Dr. Johannes Zimmermann setzt sich damit auseinander.

https://www.youtube.com/watch?v­l0CnvZmGHaA

Dr. Bernhard Knorn: "Glauben und Wissen in der Theologie im Kontext des Jesuitenordens"

Dr. Bernhard Knorn von der katholischen Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt a.M. zeigt auf, wie seine eigene Hochschule mit ihrem Motto „pietati et scientiae“ eine Maxime ausdrückt, die große Ähnlichkeiten mit dem pietistischen Kontext hat.

https://www.youtube.com/watch?v­puyDgK7ME38

Prof. Dr. Heinzpeter Hempelmann: "Pietas als Stachel und Herausforderung für Scientia"

Von Albert Einstein, der sich sehr um eine Verhältnisbestimmung von Religion und Wissenschaft bemühte, ist der Satz überliefert: „Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft blind.“ Prof. Heinzpeter Hempelmann widmet sich dem Thema, wie Pietas eine Herausforderung für Scientia sein kann.

https://www.youtube.com/watch?v­AsY6tgI-2Rw

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